Laudatio auf Golo Mann zur Verleihung das Literaturpreises der Stadt Bad Wurzach für seine "Deutsche Geschichte des "19. und 20. Jahrhunderts" am 13. 6. 1985
Vor ziemlich genau 29 Jahren, im Juli 1958 veröffentlichte die »Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken MERKUR« »Notizen zu Problemen der Geschichtsschreibung« von Golo Mann. Er bezeichnet sie als »Denkfragen«, die ihm »beim Geschichtsunterricht oder dem Schreiben über geschichtliche Gegenstände« untergekommen sind.
Sie haben sich ihm nicht aufgedrängt, er, hat sie nicht gestellt, diese Fragen, er hat auch nicht mit ihnen gerungen, wie es sich gehört, und schon gar nicht hat er sie »hinterfragt«, – nein, schreibt Golo Mann, sie sind ihm »untergekommen«. Alte Fragen und oft behandelt, aber »jeder erfährt sie ein wenig anders.«
Die »untergekommenen« Fragen »ein wenig anders« zu sehen, das ist der Anspruch des Publizisten und Historikers Golo Mann
vor drei Jahrzehnten gewesen, als er an seiner »Deutschen Geschichte« arbeitete. Wir preisen sie heute hier, weil sie das einzige Werk der deutschen Geschichtsschreibung ist, das in den letzten Jahrzehnten zu einem Volksbuch geworden ist. Es erschien 1958 zugleich in der gewerkschaftlichen »Büchergilde Gutenberg« und beim Verlag S. Fischer, und es kam gleichzeitig heraus mit dem Band »Außenpolitik« des Fischer-Lexikons, das wir, er und ich, gemeinsam schrieben und herausgaben – ein Taschenbuch.
Lassen Sie mich an dieser Stelle daran erinnern, daß literarische Erfolge nicht nur dem Ideenreichtum und dem Können des Autors zu danken sind, sondern auch der Potenz des Verlegers. Literaturgeschichte wird erst als Verlagsgeschichte verständlich und als Geschichte der Medien. Martin Luther wurde durch seinen Drucker ein berühmter Mann, ehe ihn die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten stellen mussten.
Goethe und Cotta, Heine und Hoffmann und Campe, Thomas Mann und S. Fischer sind Exemplare einer allgemeinen Tendenz. Max Tau, der Lektor bei Paul Cassirer war, hat mir einmal prophezeit, die deutsche Nachkriegsliteratur werde ganz anders aussehen,
als die Literatur vor der Machtübergabe an die Nazis, auch wenn die emigrierten Autoren zurückkämen und die Überlebenden wie-
der in Deutschland gedruckt würden, weil die Jüdischen Verleger nicht zurückkommen würden. Er hat recht behalten. Die Verleger haben ihr Publikum, ehe das neue Buch seines finden kann.
Die Mitgift der Büchergilde und des Verlages S. Fischer war die denkbar beste Ende der 1950er Jahre in Deutschland. 1958 war ein sattes Jahr, Bundeskanzler Adenauer hatte im Vor-Herbst seinen größten Wahlerfolg mit der Parole »Keine Experimente« gewonnen.
„Entideologisierung« der Politik, »Entmythologisierung« der Theologie im Jaspers-Bultmann-Streit, »Enttheoretisierung« der Sozialwissenschaften durch amerikanischen Empirismus bestimmten den intellektuellen Trend. Das mußte eines Tages umschlagen. Wir mussten das alle, und es ist dann auch umgeschlagen, als eine neue Generation da war, die unseren eingefleischten Respekt vor dem Alter und dem Hergebrachten nicht mehr hatte.
Golo Mann hat damals den Bürger Adenauer bewundert, der wie nie zuvor ein anderer Bürger die deutschen Geschicke leitete.
Er schätzte den rheinischen Juristen, der selbstverständlicher Bürger war als seine Generationsgenossen Ebert, Stresemann, Rathenau, Wirth, Brüning und die meisten Politiker, die aus Weimar in den Nachkrieg hineinragten und hineinregierten. Wir haben oft darüber gestritten; aber Golo Mann hat die Ambivalenz des Mannes und der Leistung keinen Augenblick verkannt, weil sie ihm von anderen »Meistern der Politik« vertraut war. Mit Churchill hielt er Adenauer für den größten deutschen Staatsmann seit Bismarck, aber der Vergleich mit Bismarck hat es in sich. Hatte nicht ein intimer Kenner der deutschen Politik, wie der kaiserliche Botschafter in London 1914 Fürst Lichnowsky, bemerkt, daß die Irrtümer des Meisters das ganze Epigonenzeitalter beherrschten? Daß diese Fehler Bismarcks zu einem System ausgebaut wurden, das schließlich zum Untergang führte? Und hatte Golo Mann daß nicht, Ende der 20er Jahre selber von Lichnowsky so gehört, dem Vater einer Heidelberger Studienfreundin und eines Freundes?
Also schreibt der Historiker Golo Mann zu Adenauers Rücktritt 19631 »Seine Politik war die gradlinigste, offenste, treueste und auch nicht. Franzosen und Amerikaner hat er nie betrogen; viel eher das eigene Volk. Aber vielleicht wollte es sich betrügen lassen, weil es ihm gut dabei ging.
Vielleicht könnte man für ihn geltend machen, daß er es betrog in seinem wahren Interesse. Um die Spekulation noch weiter auszuspinnen: zuletzt könnte dabei herauskommen, daß, während er die Nation betrog, um ihren Wiederaufstieg zu echter Souveränität zu verhindern, die Nation mit ihm und seiner Versöhnungspolitik die Welt betrog,… daß sie die Leiter, auf der sie zu neuer Macht kletterte, umstoßen wird, wenn sie ihrer nicht mehr zu bedürfen glaubt, wie 1933. Das ist Das ist im Moment nicht wahrscheinlich, aber nichts für unmöglich zu halten, haben wir gelernt.«
Der Historiker Golo Mann hatte, als er seine Deutsche Geschichte schrieb, in der Emigration in Frankreich und Amerika viel gelernt; er war ein Jaspers-Schüler und Jungakademiker, als er beginnen mußte, es zu lernen; aber er hat, was er zwischen 1933 und 1946 gelernt hat, dazu gelernt zu einem Fundus persönlicher Erfahrungen und Bekanntschaften, den ihm die Familie mitgegeben hat.
Daß er an Adenauer den Bürger bewunderte, dem Obrigkeiten wenig imponierten, kommt nicht von ungefähr.
Manns beide Eltern, sowohl die Manns wie die Pringsheims, zählen zum, ich möchte sagen, statiönären Bürgertum, das nicht gerade an Minderwertigkeitskomplexen leidet.
Man kann der Welt freundlich gegenübertreten ohne leutselig zu wirken, wenn jeder weiß, mit denen ist nicht gut Kirschen essen. Wer hat schon eine schriftstellernde Urgroßmutter, in deren Salon Alexander von Humboldt und Ferdinand Lassalle verkehrten? Man soll die Literatursoziologie auch nicht zu weit treiben, aber der Einfluß des Ambientes auf die geistige Entfaltung literarischer Potenzen ist im Positiven wie im Negativen unbestreitbar.
Dabei können aus derselben Familie gleiche Begabungen sich ganz unterschiedlich entwickeln, Klaus und Erika Mann, die älteren Geschwister, interessierten sich für das Typische und die Rollen des sozialen Theaters. Sie hatten Freude am Spott und am Verspotten. Sie spielten sich gerne auf im Theater, das wir alle spielen. Nicht, daß Bruder Golo das nicht könnte. Er beherrscht die Familiensprache so gut wie sie, aber er orientierte sieh in seiner Adoleszenz an Ricarda. Huch und nicht am Onkel Heinrich Mann, wie Erika und Klaus.
«Menschen und taten interessiertem ihn, nicht Entwicklungen. Auch die eigene Entwicklung nicht. Das, was ist, hat er allerdings immer erfassen wollen, und heute ist, was gestern nicht war; war; aber der Erfassende ist im Kern immer der Gleiche geblieben.« So Golo Mann über seinen Salemer Lehrer Kurt Hahn, der auch einer seiner frühen Geschichtslehrer war. In etwa hat Golo Mann da sein eigenes Interesse beschrieben. Klaus und Erika interessierten die Entwicklung brennend und folgerichtig die Verwicklung nicht minder, Golo Mann interessieren die Menschen, ihre Sorgen und Freuden, ihre Wünsche und deren Erfüllungen, wie Menschen mühsam lernen, Wunsch und Erfüllung zu unterscheiden, oder es auch nie lernen». Menschen in ihrem Widerspruch und wie sie ihr Leben meistern, indem sie mit den unausbleiblichen Widersprüchen ihrer Existenz fertig werden. Wie sie trotz dieser Widersprüche leben. Er könnte, wollte er, aus der Fülle seines poetischem Gedächtnisses das unvergleichliche Gedicht des Theodor Fontane aufsagen, darin der alternde Journalist und Schriftsteller einem arrivierten Altersgenossen begegnet, und wie sie einander grüßen.
Da reimt sich dann das »noch immer – zuwege« mit dem »Danke, Exzellenz, trotz Nackenschläge.« Überhaupt die Lyrik, die das Daseins und die des Vergehens.
Im Werk des historischen Publizisten Golo Mann nehmen die Biographien deshalb einen wichtigen Platz ein. Mit dem großen Buch über den Publizisten und „Sekretär Europas« , Friedrich Gentz, hat Golo Mann sein eigenes literarisches Profil gewonnen. Unmittelbar nach dem Kriege erschien es bei Emil Oprecht in Zürich, jenem Schweizer Verleger, der wohl am meisten für die deutsche Exilliteratur getan hat. Es ist in Deutschland wenig beachtet worden, weil die Franken rar waren, und weil die Währungsreform von 1948 andere als geistige Bedürfnisse zu decken wieder erlaubte.Zwischen dem »Gentz« und dem opus magnus »Wallenstein« schrieb er ungezählte historische Miniaturen und biographische Essays, von denen einige in Sammelbände eingegangen sind, andere nicht, Anekdoten und Erzählungen von Begegnungen mit Zeitgenossen. Ich habe mich in den vielen Jahren unserer Freundschaft immer wieder gefragt, ob nicht darin Golo Mann’s eigentliche Stärke liegt. Er wäre, hätten wir diesen Schriftstellertypus in Deutschland wie in England, ein großer »Biographer« geworden, hätte er mit dem Erstling »Gentz« ein breites Publikum gefunden.
Er fand es nicht. Auch nicht den Verleger, der ihm die Kontinuität des Schaffens garantiert hätte, die unerläßlich ist, um einem neuen Genre Öffentlichkeit zu sichern. So sind seine analytisch klaren, poetisch beschriebenen, zugleich kritischen und oft melancholischen Stücke über historische Figuren weit verstreut in Zeitungen und Zeitschriften nachzulesen. Es wäre an der Zeit, daß sie gesammelt würden. Wie unser Autor an Lebensläufen, an Büchern und anderen Werken und an Taten das Exemplarische aufspürt, und ihm Dauer verleiht, lehrt Geschichte durch literarische Gestaltungskraft.
Mann ist weit entfernt von der deutschen Gleichsetzung von Geschichte und Wirklichkeit. Es hat romanische Distanz und die sprachliche Eleganz, die unseren Historikern so sehr zuwider ist. Golo Mann betreibt, wie Jacob Burckhardt, Theodor Mommsen und John Huizinga die Geschichtsschreibung als Literatur. Er hat sie, darin der amerikanischen »New History« verwandt, in unserer Sprache wieder in den Stand der Literatur versetzt.
Das sieht die Zunft der akademischen Geschichtslehrer nicht gen, teils weil es ihr an Gespür für unsere Zeit gebricht, teils weil es
an Gestaltungskraft fehlt. Die Tradition der Beamtem, die aus möglichst amtlichen Archivalien das herausholen, was von den Obrigkeiten der Gegenwart gebraucht wird, ist nicht vereinbar mit Golo Manns Einsieht, daß beide, Dichter und Historiker „Künstler«, Taschenspieler, Macher vom Schein« seien, und gleich ketzerisch: »Aber niemand kann erzählen, wie es eigentlich gewesen ist, und es wäre unerträglich langweilig, wenn einer es versuchte.«
Manns „Deutsche Geschichte« ist ein Volksbuch geworden, weil der Historiker die Grenzen seines Vermögens und die der Aufnahmefähigkeit des Publikums richtig eingeschätzt bat. Das nenne ich, die Geschichte als „symbolische Form« (Ernst Cassirer) zu begreifen und ihr die Unnachahmlichkeit des Lebens zuzugestehen. Das Problem liegt nicht in den Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten von Historie und Literatur, «sondern in den Unzulänglichkeiten der Sprache. Ihre Decke ist, wie Fritz Mauthner formuliert hat, für die Wirklichkeit immer zu kurz.
Golo Mann interessieren Hänselten und Taten, und so enthält auch sein Hohn noch ein Zugeständnis an die Vergeblichkeit
menschlichen Tuns. Im Mai 1938, als Hitlers »Großdeutschland« die erste Macht in Europa und die zweite Wirtschaftsmacht der Welt geworden war, schrieb der 29jährige Emigrant in der Zeitschrift »Maß und Wert«, »Was ist von all den Protesten und Demarchen, dem Fetischkult gewisser Badeortsnamen, von fünfjährigen Zeitungsartikeln, Frontkämpfer- und Jugendtreffen, wohlwollend verblasenen oder kalt-schadenfrohen Professorenanalysen übrig geblieben? Nichts, was nicht auch da wäre, wenn alle diese Diplomaten, Parlamentarier, Journalisten, Alt- und Jungsoldaten fünf Jahre lang gestreikt hätten: Rüstung und Krieg… Wahrscheinlich hätten wir uns seit 1933 vor allem auf uns selbst, auf die Gründe der Niederlage, auf Deutschland und seine wünschbare Zukunft besinnen müssen, anstatt die Angelegenheiten der ganzen Welt zu den unsrigen zu machen; wie verständlich diese letztere Haltung bei der Last unseres Kassandra–Wissens auch sein mag.« Keine härtere Selbstkritik findet sich in der Emigrationsliteratur der 1930er Jahre.
Daß das Spiel des gleichzeitigen Preisens und Anklagens, vom Schreibtisch aus geübt, etwas Billiges habe, hat er später oft genug gesagt; aber auch, daß es dem Historiker nun einmal aufgegeben sei.
Das Buch von 1958, das uns hier versammelt, war nahe an diesen Erfahrungen. Es sollte helfen und ist für viele Leser konzipiert worden. Sein Autor hat die Aufgabe so formuliert: »Wir wollen die historische Wirklichkeit begreifen, ordnen, schön gestalten. Zu zeigen, daß sie nicht sinnvoll geordnet werden kann, ist leicht, der Sophist, der Nihilist, tut es. Aber er leistet nichts damit, außer daß er seine eigene Überlegenheit exhibiert. Gestehen wir dem Pragmatismus zu: Denken soll helfen. Es soll nicht lähmen und zerstören.«
Golo Mann will mit seinem Danken helfen als Publizist wie als Historiker. Helfen wollen ist das Ethos, das ihn auch die Untertreibung drucken heißt, die Fragen zur Geschichtsphilosophie seien ihm »untergekommen.« Das klingt nach Beiläufigkeit und Einfall im Vorübergehen, der dem Wandersmann kommt, wenn. er fröhlich seines Weges zieht. Er hat eine Richtung eingeschlagen. Er hat den Boden unter die Füße genommen, und dabei ist ihm dies und jenes
»untergekommen«, ein eher heiteres Zusammentreffen subjektivem Weg und dem Objekt »Frage« im Weitergehen. Vielleicht bleibt man stehen, nachdenklich!
Aber eben doch im Durchgang, en passant, – wie man früher sagte. Nachdenken aus der Situation des Passanten, des Wandersmannes, des Reisenden, des Migranten, wie man heute sagt.
Golo Mann denkt nicht im Hocken, er denkt im Kommen und Gehen. Er ist ein Peripatetiker des 20. Jahrhunderts. Er bohrt keine Bretter, wie Max Weber das politische Geschäft versinnbildlicht hat. Er versteht es eher als Artistik:, oft genug als Seiltänzerei wie Friedrich der Große, als eine Balancier-Kunst. Er räumt den Hokuspokus, der dabei gemacht wird, beiseite, und fragt, was dann an Wirklichkeit noch bleibt.
Zu diesem Bemühen um die Wirklichkeit außer den Worten und Archivalien gehört, was der Romanist Hans-Martin Gauger den interessantesten sprachlichen Zug in Golo Mann» Stil nannte: Er bildet seine Sätze aus relativ kleinen sprachlichen Einheiten. Der große Gedankenbogen ist aufgelöst in aneinander gereihte, relativ kleine Einheiten.
Adjektive werden zur Verdeutlichung nachgeschoben. Man könnte manche dieser Zeilen in Gedichtform sich denken, wenn auch nicht gerade den folgenden aus der Deutschen Geschichte: »Berlin schlug zu; Seekt, ermächtigt von dar obersten Reichsbehörde, schickte ohne viel Mühe die mitteldeutschen
Kommunistenregierungen nach Hause. Legal war das nicht; ach, so sehr viel, was man seit Januar 1919 getan hatte, war ja von den frommen Vätern der Verfassung nicht vorgesehen gewesen… Der >Hitlerputsch< war ein Nachspiel, kein Hauptereignis in dieser unsäglich wirren und elenden Geschichte ....« Die »untergekommenen Fragen« haben ihren Weg. Der Autor begegnet ihnen auf seinem Weg, und dabei bleibt es. »Der Mensch«, schreibt Golo Mann im zitierten Essay, »kann es sich nicht erlauben» einen Gedanken zu Ende zu, denken, allein ihm sich anzuvertrauen. Tut er es, zerstört er die Wirklichkeit, in der er ordnend sieh zurecht finden wollte. Das Gedachte muß korrigieren durch Gedanken der entgegengesetzten Art.« Das »wenn und aber«, das »sowohl als auch«, das »nicht nur sondern auch« liegen in der Natur des Menschen, und selten gibt das scheidende »entweder – oder« und das »so und nicht anders« der letzten Gewißheit gültigen Ausdruck.
Golo Mann hat wie kein anderer deutscher Historiker unserer Tage das Transitorisehe aller Bemühung um die Zeugnisse der Vergangenheit sprachlich vermittelt, die wir Geschichte nennen. Er weiß, daß Donoso Cortes das »stets sich korrigierende, balancierende Denken« dem Liberalismus zum Vorwurf gemacht hat, und bekennt sich dazu: »Der Liberale sage distinguo , der Konservative affirmo und nego : die Leute würden das unentschiedene, schwächliche Unterscheiden bald satt bekommen. Die Aufgabe des Denkens ist aber gerade dies unterscheidend, sich selber widersprechend, dennoch zum Positiven zu kommen. Mit dem bloßen affirmo ist es nicht getan. Es geht früher oder später auf Kosten der Wahrheit. Unwahrheit hilft nicht.« So Golo Mann zu der Zeit, als er seine »Deutsche Geschichte« schrieb. Jener Essay im »Merkur« vom Juli 1956 endet mit der Überlegung, daß die »hilfreichsten Werke« der politischen Lehre, auch wenn sie polemischen Ursprungs waren, »doch ihre eigene Kritik in sich hineingenommen. Darin beruht die
Überlegenheit Burkes gegenüber de Maistre und anderen donquiichotesken Konservativen, das schärft seinen Ausdruck, das gibt seinem Stil die Spannung und Nervosität.
Dagegen begreift man bei gewissen Theoretikern unserer Tage, zum Beispiel den Neoliberalen , kaum, wie sie die Einwände übersehen mochten, die gegen ihre Halbwahrheiten gemacht werden.«
Mann räumt ein, daß die großen Saehfragen, die man den Historikern stellt, gewöhnlich zu einem Ja oder Nein zwingen. Man muß darüber diskutieren, aber die ganze Wahrheit liegt in keiner von ihnen.
Der Schriftsteller oder Lehrer, der es in diesem Sinne genau nimmt, wird sich leicht dem Vorwurf verwirrender Unentschiedenheit aussetzen. Eben hat er das und das gesagt, nun sagt er etwas ganz anderes; der Schüler will eindeutige handfeste Antworten haben. Man darf ihm nicht zu Willen sein. Die historische Welt ist die menschliche, die Welt des Relativen, nicht des Absoluten; des Scheines, der vielen Ansichten, die kein Ganzes ergeben. Das Vieldeutige zu überwinden, ein Ganzes dennoch erscheinen zu lassen, ist Aufgabe des Kunstwillens, der dem Wahrheitswillen die Waage hält, ohne ihn aufzuopfern.«
Diese »Notizen zu Problemen der Geschichtsschreibung« tragen die Überschrift »Der Goldene Mittelweg«. Steinig ist dieser Goldene Mittelweg: Widersprüche erkennen. Sie verständlich
machen und helfen, wie man mit ihnen leben kann – lehrt Golo Mann, der Historiker und der Publizist.