Die rückwärts gelebte Zeit überschrieb Eugen Rosenstock-Huessy seine Erfahrungen von 1918 bis 1928. Er unterschied die Jahre der Freiheit und der Erschütterung bis 1923 von den nachfolgenden des Vergessens ― »durch Hindenburgs Präsidentschaft äußerlich markiert«. Nun galten »plötzlich Kollegen, Partei, Familie, Interessen wieder allein«. »Wir mußten alle wieder die alten Kleider anziehen.« Es war geboten, so »dumm und einfältig (zu) werden, wie die Berufsreligion, die Standes- und Familienkonvention es vorschrieben«.
Der Rechtshistoriker und Soziologe wandte sich gegen Theologen, die das Verhältnis von Gnade und Gesetz falsch darstellten, »als sei die Gnade so eine Art Begnadigung … Es ist aber gerade umgekehrt. Das Gesetz ruht auf der Gnade. Die Gnade lehrt uns sterben. Das Gesetz aber lehrt uns leben.« Dann berief er sich auf
Paracelsus, daß jeder Anfang zweimal gemacht werden müsse, einmal vom Himmel oben und einmal von der Erde unten. Wo der heilige Geist nicht sei, sei der freie Wille. Bei den Verdammten sei er frei zum Morden, Stehlen und Betrügen. »Der rechte freie Wille ist aber der, der die Probe besteht in der Versuchung, durch eigene Vernunft ohne den heiligen Geist.« Erkenntnis werde nur dem gewährt, der sie auch wieder aufzuopfern bereit sei. Das Vergessen sei Bedingung aller Wahrheitserkenntnis. »Denn wir sollen nicht unsere Erkenntnis lieben, sondern unseren Nächsten.« Der Essay über die Wende der zwanziger Jahre und ihren geistesgeschichtlichen Hintergrund erschien 1929 in Heft 2 der Vierteljahresschrift Die Kreatur, die Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig in ökumenischer Eintracht im Verlag Lambert Schneider auf drei Jahrgänge brachten.
Rosenstock nannte den Generationsmythos, der durch die Dezimierung der Jahrgänge 1869 bis 1899 im Ersten Weltkrieg und die überstarken Jahrgänge 1900 bis 1914 entstanden sei, übertrieben. Im letzten Heft desselben Jahres 1929 druckte Die Kreatur einen
Versuch über die komische Existenz. Er setzte den heimlichen Helden der zwanziger Jahre, Charlie Chaplin, mit dem scheiternden Hidalgo des 16. Jahrhunderts, Don Quijote, und dem einfältigen Frommen des 19. Jahrhunderts, Dostojewskis »Idiot« Fürst Myschkin, in Beziehung. Der Autor war ein Heidelberger Philosophiestudent aus Wiesbaden, Sternberger, gerade 22 Jahre alt. Sein Essay belegte Rosenstocks Voraussetzung, daß die Zeit unaufhörlich »Entschlüsse« von uns fordert: »Jederzeit entschließen müssen wir uns und unsere räumliche Ruhelage, weil die Zeit keinen Stillstand duldet.«
Wie aber sich »entschließen«? Für »das ganz Andere«, die Erneuerung aus der Tiefe, der Erde, der Kreatur, wovon in Rosenstocks Soziologie ja auch die Rede war? Für das tausendjährige Rittertum als Arm der Gerechtigkeit Gottes? Für die Einfalt der großen Idee? Für den stets deplazierten Charlie, der in lauter unpassende Beziehungen gerät und mit kreatürlicher List davonkommt? Für die Komik der Vernunft?
Der medizinische Anthropologe Viktor von Weizsäcker, der den ersten Essay seines Studenten Sternberger veröffentlicht hat, lehrte, daß das menschliche Subjekt nicht etwas sei, das man ein
für allemal habe, sondern daß es in der Auseinandersetzung mit der Umwelt stets erneuert werden müsse. Chaplin, Myschkin, Don Quijote handeln von Erfolg und Mißerfolg solcher Erneuerungsbemühungen, die entweder zu einem Ausgleich mit der Umwelt führen oder die Balance verspielen, was dann auf die Betrachter komisch wirkt. Diesen ewigen Balanceakt nennen wir heute Kommunikation, das Drahtseil mit oder ohne (soziales) Netz darunter wäre das Medium. Man erinnert sich, daß schon Friedrich der Große sich mit einem Seiltänzer verglichen hat und daß das vieldeutige und bedeutungsgeschwellte Wort von der Politik als Kunst sich auf Artistik bezog.
Der junge Sternberger war von solchen politischen Assoziationen weit entfernt, weil ihm in den Jahren 1927-1929, als er in Heidelberg studierte, der Professor Jaspers einen hehren Begriff von »existentieller Kommunikation« vermittelte. Viel später, in seinem Vortrag zum Heidelberger Universitätsjubiläum 1986, vermerkte Sternberger den Widerspruch seiner Erinnerung mit den Aufzeichnungen
der Geschichtsschreibung: »ich weiß nicht, ob ich mich dessen schämen muß oder ob ich mich darüber grämen soll: es ist eine schlechthin glückliche Epoche, erfüllt von leuchtenden Erfahrungen des Geistes wie des Lebens«. Die »res publica« sei nicht vorgekommen, Politik habe man nicht bei Jaspers gelernt, sondern‘ erst »durch Hitler, e contrario«. Kein Wunder. Die Jahre der Wende seit 1923 ließen noch zu, nach Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung zu fragen. Der Kreisel, in den sie hinüberführte, kannte nur noch »Scherz, Satire, Utopie und tiefere Verzweiflung«, wie Dolf Sternberger ein Feuilleton überschrieb, als er 1958 zum erstenmal Chaplins Der große Diktator gesehen hatte.
»Dem lebendigen Geist« war die Universität gewidmet, bis die Nazis den Spruch Gundolfs durch den »deutschen Geist« verdrängten, die von Rosenstock vermerkte Dummheit zum Symbol erhebend. Ehe es dahin kam, studierte Sternberger Privation bei Karl Jaspers: »Was Jaspers lehrte, war eine Philosophie der Intimität. Intimität, das ist die Sphäre der nächsten und vertrautesten Nähe, aber der Nähe zweier gesonderter Wesen. Weit entfernt, etwa die Vereinigung oder Verschmelzung zu rühmen, schärfte diese Lehre vielmehr in höchstem Maße den Sinn für die Andersheit des
anderen und die Eigenheit des Nächsten. Dennoch blieb es, ich wiederhole das Wort, eine Philosophie der Intimität, nicht der Publizität. Die res publica kam nicht zur Sprache, damals noch nicht, sondern ex-clusiv die res intima (wenn der Ausdruck erlaubt ist).«
Es ist hier im nachhinein kein Zweifel an der noblen Gesinnung solchen Philosophierens angebracht, das ja die Trennung von Gesinnung und Lebenswandel aufheben wollte, indem es den kreatürlichen Mangel des Menschen an Mitteilung zum zentralen Thema machte; aber es konnte gerade deswegen auch dem einzelnen seine politische Entscheidung nicht in ihrer Dimension für den Intimbereich verdeutlichen. Dolf Sternberger schloß seinen Vortrag 1986 mit einem Gedankenbogen, der ihm erst durch die leidvolle Erfahrung aufgegangen ist: »Hätten wir diese Erfahrung der Kommunikation nicht gemacht und diesen Begriff der Liebe nicht gewonnen ― und wäre es uns damit, mit der res intima, nicht so ernst gewesen, so hätten wir wahrhaftig nicht gewußt, was zu verteidigen sei. Denn der politische Aspekt der Existenz, die harte Außenseite, die feste Schale der Intimität gleichsam ― das ist nichts anderes als die
Freiheit der Person, und zwar nicht allein als meine Freiheit, sondern zugleich als die Freiheit des anderen, des Nächsten eben. Und das ist doch der Kern und die Summe der bürgerlichen Rechte und das Herz des Verfassungslebens.«
Sternberger promovierte 1931 bei Paul Tillich mit einer noch heute lesenswerten Arbeit zur Interpretation des Jaspers-Rivalen Martin Heidegger, Der verstandene Tod. Vorher hatte er Ilse Rothschild geheiratet, und ich hoffe, mir nicht den Vorwurf verletzter Intimität zuzuziehen, den Dolf Sternberger den Herausgebern des Briefwechsels zwischen seinem Lehrer Karl Jaspers und seiner Studienfreundin Hannah Arendt gemacht hat, wenn ich hier schreibe, daß er an der Seite dieser Frau der zu feiernde Achtziger geworden ist, über die zwölf Jahre hinweg, in denen der Tod wie nie zuvor »ein Meister aus Deutschland« war.
»Existentielle Kommunikation, das bedeutete die höchste Erwartung gewiß in der Freundschaft, vor allem aber in der Liebe, die höchste Erwartung und den höchsten Anspruch, nämlich die Liebe ernst zu nehmen, sich zu entscheiden und in einem genauen und tiefen Sinn: Treue zu üben, Treue zur eigenen Entscheidung. Dieser Geist drang ins Leben, in unser eigenes Leben ein, wurde buchstäblich zum lebendigen Geist«.
In Band I der Schriften, die der Insel Verlag seit 1977 herausbringt, Über den Tod, macht Sternberger eine bourgeoise Strapaze, das Erlernen des Windsorknotens in der Herrenkrawatte, zum Sinnbild des Lebenlernens und des damit verknüpften Todes. Es verbindet die beiden Ansätze der Dissertation von 1931, daß ein anderer stirbt und daß ich sterben muß, denn diesen Schlips muß jeder knoten, auch wenn er »frei Hals« geht, wie ein deutscher Wandervogel, ein israelischer Minister oder, wenn ich recht erinnere, Dr. Dolf Sternberger, als er 1945 in Heidelberg Lizenzträger der Monatsschrift Die Wandlung war. Die Krawatte bedeutet, daß wir den Strick schon um den Hals tragen, und Stembergers Metapher weckt sogleich weitere Bilder, was für ihre schriftstellerische Qualität zeugt. Auch sehe ich, es sei gestanden, die Großaufnahmen unserer Politiker im Fernsehen anders, seitdem Sternberger die Einheit von Lebenlernen und Erlernen des Todes an den Strick um den Hals geknüpft hat.
Ehe er ein so vielfältiger, scharfsinniger und graziöser Anreger geworden ist, hatte er sein Leben vor der herrschenden Einfalt zu verteidigen. Heideggers »Kehre«, die Karl Löwith so klar analysiert hat, war dem Jaspers-Schüler nicht nachvollziehbar, auch nicht der gewöhnliche Opportunismus, ohne den politische Systeme nicht zu verstehen sind. Der »lebendige Geist« in seiner Vielfalt bleibt, seiner Subjektivität entsprechend, differenziert und beharrlich und somit im Nachteil gegenüber institutionalisierter Einfalt. So auch 1933.
Das deutsche Trauerspiel der frühen dreißiger Jahre wird noch heute als »Machtübernahme« verstanden; aber es war die Machtübergabe durch einen vom Volk schon 1925 gewählten Reichspräsidenten der Republik an eine mehrheitsfähige Koalition mit allen äußeren Anzeichen der Legitimität und der damit verbundenen Illusionen. Daß es »Das Ende der Illusionen« schlechthin war, haben außer denen, die sofort als Feinde stigmatisiert wurden und mit dem Tod bedroht, nur wenige gesehen, wie Leopold Schwarzschild in seinem gleichnamigen Buch von 1934. Wer sein Heil in der Flucht sucht, flieht vernünftigerweise nur so weit, wie er muß, um sich in Sicherheit wähnen zu können.
Dolf Sternberger wurde Redakteur bei der Frankfurter Zeitung, der besten Adresse im damaligen Zeitungswesen. Dort blieb er, bis er 1943 von der Berufsliste gestrichen wurde. Kurz danach hörte das Blatt auf zu erscheinen, und ich erinnere mich, daß die Feldpost dem jungen Abonnenten statt dessen die Deutsche Allgemeine Zeitung brachte, in der für mich die vielen Gefallenenanzeigen das interessanteste waren. »Der Glaube ist unglaublich«, schrieb der späte Sternberger, »doch immer noch glaublicher als der Tod«.
In jenen Jahren hatte sich der Redakteur Sternberger über Wilhelm von Humboldt auf die Sprachkritik und ins 19. Jahrhundert zurückgezogen. 1938 erschien Panorama oder Ansicht vom 19. Jahrhundert, eine Rundschau auf Miniaturen des bürgerlichen Zeitalters mit Glanzlichtern geistesgeschichtlicher Bedeutung. Es holte die verhöhnte Gründerzeit wieder herauf, um im Flüchtigen die Rekonstruktion, das verdrängte »Höhere« zu beschwören. Das Material für das Wörterbuch des Unmenschen wurde gesammelt, wie Sternbergers Freund Gerhard Storz berichtete. Das war vorausgedacht. Die Sprache würde überleben, und sie zu reinigen würde für die Erneuerung der Subjekte wichtig werden. Sprachkritik in Jahren politischer Hilflosigkeit. Germania docet. Das Erlernen des Windsorknotens für die uniformierte, vielfältig uniformierte einfältige Nation.
Kleiderwechsel. Heidelberg war im Sommer 1945 eine Idylle inmitten der Trümmerhaufen von Mannheim, Ludwigshafen, Darmstadt, Frankfurt, Heilbronn, Stuttgart, Pforzheim, Karlsruhe, Bruchsal, von der Einfalt des Bombenkrieges verschontes Hauptquartier der amerikanischen Besatzungsmacht. Stadt der Überlebenden und auch des Überlebten. Hier mit Hilfe einer Monatsschrift »die Wandlung« zu proklamieren, war Dolf Sternbergers großes Verdienst. Er teilte die Lizenz mit Lambert Schneider, dem Verleger der Kreatur, und hatte die Professoren Karl Jaspers, Alfred Weber und Werner Krauss mit sich.
Die Wandlung förderte das große Nachholen des in zwölf Jahren Versäumten. Der Titel zielte nicht auf Wende, nicht auf Kehre, schon gar nicht auf »die rückwärts gelebte Zeit«, sondern nach dem Sündenfall auf eine neue Kreatur, einen neuen Menschen, der die Kommunikation ernst nimmt.
Im Grunde war das ein ethisches Ziel biblischer Herkunft, und es entsprach diesem tieferen Sinn, daß Dolf Sternberger sein redaktionelles Tagebuch mit Reiseberichten durch Deutschland im Güterwagen eröffnete, deren Menschenpferche die »res intima«
zur »res publica« entblößten. Das hatten die Deutschen vor der Niederlage dem Volk der Bibel angetan, als sie es in den Tod schickten, fahrplanmäßig. Würde ihre eigene Erfahrung dazu beitragen, sie zu einem Volk zu machen, das seine Freiheitsrechte eifersüchtig bewachte – wie Alfred Weber im ersten Heft forderte?
Sternberger berichtete, wann seine Mitreisenden »wir« sagten und wann »die«, wie sie die Obrigkeiten im Hitlerreich genannt hatten. Die Zeitschrift versuchte, eben jene Vielfalt zu aktivieren, an der, wie sich herausstellte, der Widerstand gegen Hitlers Einfalt gescheitert war.
Zum großen Nachholen gehörte der Entschluß, im Wiederherstellen des Parlamentarismus Partei zu ergreifen. Sternberger setzte beim Wähler an. Die neue Republik konnte nicht besser sein als ihre Wähler. Bürokratie, soweit unvermeidlich, sollte, wie Alfred Weber und Alexander Mitscherlich 1946 forderten, durch kleine Handlungsgruppen konterkariert werden. Persönlichkeiten, nicht unkontrolliert erstellte Listen sollten zur Wahl stehen. Die »Deutsche Wählergesellschaft« ging baden mit diesem Programm. Auch die »Aktionsgruppe Heidelberg«, ein hochkarätiger Debattierklub, pu-
blizierte hauptsächlich für die Papierkörbe der »Entscheidungsträ-ger« oberhalb der mitdiskutierenden Staatssekretäre, Minister und Präsidenten.
Vielleicht hatte Dolf Sternberger mit seinen regelmäßigen Kommentaren im Hessischen Rundfunk seit 1946 die größte Publizität des ganzen Vereins. Er sprach druckreif, unverkennbar gepflegtes Rhein-Main-Hessisch und mit ironischer Distanz, etwa so (wenn mein Gedächtnis mich nicht im Stiche läßt): »Da komme ich nach Bonn am Rain. Und da sehe ich Wache stehen: den Bundes-Gränz-Schutz. Ei, frage ich mich, was tut der Bundes-Gränz-Schutz in Bonn am Rain? ― Der Rain ist doch Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Gränze?«
Das wird aber wohl 1951 oder später gewesen sein, und da war es mit der Wandlung schon vorbei. Die Parteien hatten sich etabliert, und Sternberger mußte sich dagegen wehren, zu den »Adenauern« oder den »Schumachern« gerechnet zu werden. 1950
veröffentlichte er Figuren der Fabel, die er als Essays bezeichnet, meisterliche Reflexionen der Subjektivität, einer Subjektivität, die ohne Vergangenheit keine Zukunft hat, wie er klagte, als er 1947 in der Wandlung den dienstlichen Bericht des SS-Generals Stroop über die Vernichtung des Warschauer Gettos zum erstenmal veröffentlichte. Es sind diese bösen Erinnerungen, die dem Schriftsteller Sternberger Einhalt gebieten, wenn der Charme seiner Rede mit ihm durchzugehen anfängt.
Er wurde Mitarbeiter der unvergessenen Gegenwart, einer Gründung ehemaliger Mitarbeiter der alten Frankfurter Zeitung und von deren hohem Anspruch ans Feuilleton. Zugleich aber sollte eine »Forschungsgruppe Sternberger« in Heidelberg den pluralistischen Entwicklungen in der Bundesrepublik auf den Fersen bleiben. Selber aus einer »Pflanz schule für Schriftsteller« hervorgegangen, der Frankfurter Zeitung, machte Sternberger seine Seminare zu einer Pflanzschule für Politiker in Theorie und Praxis, man könnte auch sagen: der »Staatsfreundschaft«, die er 1963 der Sozialdemokratie zum hundertjährigen Jubiläum des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in der Heimatstadt Friedrich Eberts bescheinigte. »Staatsfreundschaft« ist freilich ein überzogener Ausdruck, wenn
unter Freundschaft eine zweiseitige gefühlsbetonte Beziehung verstanden wird. Das Abstraktum Staat ist dazu nicht fähig.
Nach 1949, als die Einrichtungen des Staates wieder legal zu funktionieren begannen, war es nun so, wie es 1945-1948 nicht gewesen war: »Die Geistigen« dachten wieder den politischen Terminierungen hinterher. Die Zeit der Entwürfe schien vorbei. Sternberger, jetzt ständiger Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wurde 1960 persönlicher Ordinarius und zwei Jahre später Direktor des Instituts für politische Wissenschaft an der Universität bis 1972. Hier entwarf er nun seine »Kritik der Rechtmäßigkeit heutiger Regierungen« unter dem Titel Grund und Abgrund der Macht und Im Gedenken großer Lehrer und verstreuter Freunde (1962). Er wollte der zeitgenössischen, einfältigen Konfrontation von guter Macht (im Westen) und böser Macht (im Osten) auf den Grund gehen und führte aus, daß unterschiedlich verursachte Mächte auch unterschiedliche Gründe haben und unterschiedliche Legitimitäten. Das war, vom offiziösen Standpunkt betrachtet, damals eine Ketzerei, aber schlüssig. Zugegeben, daß Mächte nach Po-
tenz, Beschaffenheit und Grund nicht vollständig beschrieben werden können, war doch die Unterscheidung von Legitimitätsarten und -quellen für die Diskussion förderlich und über seine Schüler auch der Meinungsbildung in den politischen Parteien.
Dolf Sternberger hat, wie Alexander Mitscherlich, der andere Enddreißiger, der 1945/46 in Heidelberg zwischen uns eher mäßig gebildeten Studienanfängern und den »großen Alten« (Weber, Weizsäcker, Radbruch, Jaspers, Hellpach, von Eckardt) neue integrierte Sozialwissenschaft zu erarbeiten begann, zur Parteipolitik Distanz gehalten; aber beider unerbittliche, doch geduldige Argumentation für die Vielfalt gegen die Einfalt ist in vielen gegnerischen Lagern politisch rezipiert worden. Mitscherlich arbeitete bis zuletzt gegen den »Wiederholungszwang«. Er hat diese Sorge als Auftrag hinterlassen.
Sternberger setzte mit Drei Wurzeln der Politik (1978) den Gedankengang von den differierenden Legitimitäten zu den unversöhnlichen Begriffen von Politik fort: seine Treue verlangt, »im Widerstreit des Unvereinbaren fortzudenken und fortzuexistieren«. Das ist der Weg zur Herrschaft als Vereinbarung und zur Vereinbarung als Friedensgarantie, denn: »Nur Vereinbarung schafft Frieden, ausdrückliche oder unausdrückliche, geschriebene oder ungeschriebene.« (Die Politik und der Friede, 1986)
Der Sprachkünstler und -kritiker, früh der Anwalt des 19. Jahrhunderts und des Jugendstils, der Geschichts- und Verfassungsfreund, der gern gewählte, ausgleichende Vorsitzende streitbarer, ja zänkischer Vereinigungen, Dolf Sternberger, verbindet so Anfang und Ende seines Weges; auf Vereinbarung beruht die öffentliche und die private, die »existentielle«, »intime« Kommunikation, von der er ausging. Vereinbarung setzt Vielfalt voraus, nicht Einfalt. Man mag sich wenden, wie man will, und wann man will.