Der Programmdirektor des Deutschen Fernsehens (ARD), Hans Abich, vollendet am 4. August 1978 sein 60. Lebensjahr. Er nimmt Gelegenheit, aus dem Amte zu scheiden.
Der Abgang Abichs — mit Ende des Monats Juni — ist wohlterminiert, wie seine Auftritte stets gemessen und so eingerichtet waren, daß Einspruch nicht aufkommen konnte. Wenn es erlaubt wäre, an dieser hochdisziplinierten und zugleich selbstverständlich verbindenden Gemessenheit dieses Mannes weiterzuspinnen, würde ich auf den Zufall verweisen, der durch die Laune der Jahreszählung in Zehnern und Hundertern Abichs Abgang mit den großen Abgängen 1778 in Beziehung setzt, Voltaire und Rousseau, aber weit mehr mit Voltaire als mit Rousseau. Es wäre eine Spielerei, auch Voltaire war ja so etwas wie ein Programmdirektor, freilich nicht der ARD, sondern Europas, und Abich ist so etwas wie ein Voltaire, freilich nicht Europas, sondern der ARD.
Da es also nicht erlaubt ist, muß statt dessen gesagt werden, daß der nun schon weißhaarige Kopf, den Abich durch die Anstalten und Veranstaltungert des Rundfunks getragen hat, seitdem er 1960 Fernsehberater bei Radio Bremen wurde, daß dieser Kopf mit der starken Nase und den wachen, forschenden, gleichwohl freundlichen Augen dem Rundfunk fehlen wird. Die deutsche Rundfunkorganisation tendiert zum Perfektionismus, und ihre Angestellten tragen die hierzu erforderlichen Amtsmienen nur zu gerne. Abich trug sie nicht. Er schien vielmehr beim Akten- und Menschenstudium stets auf der Suche nach Widersprüchen, und dies, weil sie ihn erheiterten.
Ein Sanguiniker also? Eher ein Skeptiker, denn es war doch immer Erstaunen dabei über den gefundenen Widerspruch. Erstaunen darüber, daß es den wirklich gibt. In der Zeit, als Abich Programmdirektor von Radio Bremen war und der unvergessene Heinz Kerneck Intendant, erzählte er einmal von seinen ersten Studentenerfahrungen in Berlin. Er war aus der schlesischen Heimat gekommen, um Rechtswissenschaft zu studieren, was er ja dann auch bis zum Referendar tat. Um das Großstadtleben zu betrachten, setzte er sich auf eine Bank. Dabei aß er Kirschen aus der Tüte und
spuckte die Kerne, als säße er am schlesischen Feldrain, auf die Straße. Es dauerte nicht lange, bis er an der Reaktion der Passanten merkte: darf man das hier nicht? Ich habe in gemeinsamen Bremer Jahren und in der Beobachtung des Programmdirektors ARD (1971-78) häufig gefunden, daß er diese Position in mancherlei Varianten beibehalten hat. „Ein in der praktischen Arbeit Verfangener muß schon froh sein, wenn er für sich das Logische rettet“, entschuldigte er sich einmal einem jungen Diplompolitologen gegenüber und fand es „seltsam daß in unserem Land… doch bei Lichte besehen so wenig frohe, gelöste und selbstverständliche Mentalität erkennbar ist.“ Wie „das Logische retten“, wenn es an der Mentalität dazu fehlt?
Der Zweifel führt in der Bestimmung des Verhältnisses zum Publikum zur steten Frage: vielleicht wollen die das gar nicht? So, wie sie Kirschensteine nicht gewollt haben? Abich hat beim Aufbau der Bremer Fernsehabteilung das Hauptverdienst. Kerneck wußte, daß die Selbständigkeit des Senders dahin war, wenn er „nur“ Hörfunk betrieb; aber es war Abich, der aus dem ausdrücklichen künstlerischen Auftrag im Bremer Rundfunkgesetz die rechten Konsequenzen zog, freilich gegängelt von der schmalen Kasse des
Senders, die langwierige Experimente verbot und der auch die gelungenen bald entwuchsen. Ich denke dabei an die „Entdeckung“ Rudi Carrell, die wir Abichs langer Nase verdanken; aber auch an viele Experimente, aus denen nichts wurde, einfach nichts. Dem Rundfunk ist ja wenig geholfen, wenn man immer nur seine ausgewachsenen Stücke bespricht und nicht die vielen Ansätze, aus denen etwas hätte werden können. Heinz Kerneck hatte den Ehrgeiz, aus Bremen eine „Pflanzenschule“ des deutschen Rundfunks zu machen, und Abich, außerordentlich mobil, nahm stets die Partei der Künstler. Hans Otte durfte neue, ganz neue Musik machen, Heimendahl Wissenschaftssendungen mit dem Pathos der „Göttingen 18“, Rokohl freche Unterhaltung undsoweiterundsofort. Die Konstellation war günstig. Wir glaubten, gelernt zu haben, zu wissen, was gute Programme sind, und Abich kam mit seinen Kirschsteinen. Er hatte gelernt zu sehen, und sah daher manches, was wir anderen nicht so schnell sahen oder wohl sahen, aber nicht so schnell erkannten.
Das war nicht, weil er vom Film zum Rundfunk kam. Es gibt ja leider, leider einen großen Haufen Fernseh- und Filmleute, die nichts sehen, überhaupt nichts. Vielmehr steht zu vermuten, daß Hans Abich früh zur Beobachtung überging, wo andere herummarschierten, jedenfalls etablierte er sich 1945 als Filmproduzent und Mitbegründer der Filmaufbau GmbH Göttingen. Das Logische schien dem 27jährigen, den Streifen weiterzudrehen, wo die Nazis ihn abgerissen hatten. Die Kontrolloffiziere der Besatzungsmächte hatten manches Gute, fand er: „Einmal paßte ihnen die militärische Uniform meist schlecht, zudem waren es Männer, die den Musen früher nicht ferngestanden hatten, unter ihnen fanden sich die ersten Remigranten.“ Einer von ihnen war Erich Pommer, von dem Erich Kästner schrieb, die Filmleute hätten nach ihm Ausschau gehalten wie alte Seefahrer nach dem Polarstern. In Göttingen spielte Wohl Käutner diese Rolle. Sein Film „In jenen Tagen“, Liebeneiners Borchert-Verfilmung „Liebe 47“, Jugerts „Film ohne Titel“ sind Abichs Neubeginn zu verdanken. Zwanzig Jahre danach nannte er sie „erste Produktionen einer neuen Hoffnung, die in der Filmbranche, wohl aber auch beim deutschen Publikum ihre Einlösung später nicht fand“.
Immerhin: Hildegard Knef ist geblieben. Sicherlich fehlte es an Filmdichtern, sicherlich brachte der Import nicht nur die Erleuchtung des italienischen Neoverismus, sondern auch die Konfektion, und sicherlich ist die deutsche Filmpolitik nach 1945 nicht im Traum das geworden, was man sich unter Filmaufbau 1945 vorstellen konnte.
Abich hat deshalb recht, wenn er immer wieder die unausgeschöpften Möglichkeiten jener eigenwilligen Phase als Kriterium heranzieht. Er sieht die Verteilungsapparatur des Rundfunks als Katalysator gesellschaftlicher Widersprüche nicht mehr und nicht weniger; aber er ist dagegen, daß die Produzenten sich dadurch funktionalisieren lassen. Wenn ich ihn recht verstehe, stimmt er insoweit mit Chaplin überein, der gesagt hat, es sei besser daß Beamter werde, wer nicht an jeden Film als neuer Mensch herangehen könne. Insofern wäre es vielleicht dienlich, den Abgang Abichs aus Amt und Gremien in der Proportion der Funk- und Filmgeschichte nach 1945 zu sehen.