»… begierig es zu erkennen und doch stets in leiser und wägender Distanz« 1
In der Publizistik hatte er einen Namen. Aber die kleinste Rundfunkanstalt in der Bundesrepublik Deutschland verdankt den Harry Pross der Gründung des großen Zweiten Deutschen Fernsehens in Mainz. Dorthin nämlich war der langjährige Chefredakteur 2 von der Station Bremen abgewandert, eine beträchtliche Lücke hinterlassend. Ambition bestimmte die Suche des Nachfolgers.
Als ich eines Nachmittags in die Intendanz gerufen wurde, traf ich dort beim Vorstellungsgespräch nicht auf einen Kandidaten, sondern auf einen Gast, um den Intendant Heinz Kerneck mit ausgesprochener Liebenswürdigkeit warb. Dazu gehörte auch der Bonus, den Kerneck, selbst passionierter Journalist,
ausgewiesenen Kollegen einräumte, weniger Sattelfesten indessen ziemlich kritisch begegnend. Von Harry Pross nahm ich zuerst das Folgende wahr: eine Figur von elastischer Schlankheit, die Statur eines besseren Herrn, das schmale Gesicht, das mir den überraschenden Querkopf noch vorenthielt. Sparsame Gesten, eher Schweigen als Beredsamkeit, eine schwebende Stimme von südwestdeutschem Klang, entgegenkommendes Lächeln in Gesprächspausen und, wenn ich nicht irrte, nachdenkliche Distanz. Zuweilen auch ein Wiegen des Hauptes, als wolle er sagen, die eben gehörte Meinung des anderen wäre noch nach mehreren Seiten der Betrachtung hin zu erwägen.
Abschließendes ließ Harry Pross uns für diesmal noch nicht zurück, allenfalls die berechtigte Hoffnung, es könnte für beide Seiten ernst werden; denn, ehrlich gesagt, in Bremen habe er sich bisher nicht gesehen, aber unpassabel käme ihm das schon nicht mehr vor. Als der Besucher gegangen war, verständigten Heinz Kerneck und ich uns schnell: den wollten wir haben, wenn wir ihn kriegen könnten. Nachdem wir ihn dann bekommen hatten, habe ich den Neuen weniger in seiner Abteilung Politik beobachtet als bei den herkömmlichen Sitzungen der Kollegen verschiedener Ressorts. Es zeigte sich, daß mein erster Eindruck nicht getrogen hatte. Und am Intendanten bemerkte ich unverhohlene Freude über Pross.
Da uns heutigen Tages aus den Rundfunkanstalten immerzu die Klagemauern aufgerichtet werden, versuche ich, uns die erfreuliche Runde zu vergegenwärtigen, die Harry Pross damals kennen lernte und auf seine zurückhaltend-eindringliche, zuweilen auch klug-erstaunte Weise (- »So macht ihr das also?« -) zu verändern begann, bis die Altgedienten auf den Neuen nicht mehr hätten verzichten wollen – einschließlich dessen, was eben zu erst allmählich merkbarer Veränderung führen sollte. Doch davon später.
Dienstags am frühen Nachmittag trat die Hörfunk-Programm-Sitzung zusammen, eine Gruppe hervorragender Kollegen (Journalisten und Musensöhne), die zugleich manche selbstgepflegte Kuriosität verkörperten, welche unser Geschäft ziemlich originell verlaufen ließ. Routine allein wäre ein Holzweg gewesen.
Die Sitzung, vom Programmdirektor geleitet, vom Intendanten als engagiertem Gast lebhaft mitgeprägt, auch vom Intendanz-Sekretariat (es war ein Haus der kurzen Wege) mit Tee versorgt, hatte eine unauffällige Struktur: zuerst meldeten sich aktuelle Wichtigkeiten, die aber gleich danach Zeit für Gespräche unterschiedlichster Art ließen, welche ohne Tagesordnung auskamen. Witz, Ironie, Scherz und gar pure Wahrheiten,
dem anderen freundlich ins Gesicht gesagt, bestimmten das Klima.
Wenn darüber eine gewisse Zeit vergangen war, wandte man sich dem handwerklichen Eifer des Programmplanens zu, wobei manchmal der Zuruf unter den Eingeweihten die nähere Information ersetzte. Die Neugier des einen warf Fragen an den anderen auf, während das Einverständnis der Kooperation so gewinnend signalisiert wurde, daß die übrigen den zwei Redaktionen, die da etwas verabredet hatten oder eben jetzt dabei waren, etwas zu verabreden, nicht hineinreden mochten.
Programmkritik floß mit ein, sofern sie nicht in gravierenden Fällen betont aufgerufen wurde. Wenn Neuigkeiten ins Programm beschert zu werden schienen, geschah das meist mit der Bitte um Zuspruch oder Zustimmung, die fast immer mit ermutigenden Gebärden (heute würde man sagen: auch nonverbal) gewährt wurden. Die Arbeit lag ja außerhalb des Sitzungszimmers …
Harry Pross‘ Wirken in Bremen fiel in die Zeit, in der die Notstandsgesetze überall im Lande heftig diskutiert wurden. Sie waren ihm gewiß zuwider, aber er sorgte dafür, daß vorbildlich recherchiert, informiert und kommentiert wurde. Es galt ihm abwägend aufzuklären, den Zuhörern das Für und Wider deutlich zu machen, selbstkritische Aufmerksamkeit von Experten und Praktikern der Politik und des Rechts zu erlangen.
Wenn hier nur Streiflichter »angeknipst« werden können, soll eine tägliche Übung nicht im Schatten bleiben: die 11-Uhr-Besprechung der »Aktuellen« beim Intendanten. Der Chefredakteur trug die bis dahin geplanten Sendevorhaben und die Stichworte vor, die am jeweiligen Tage politisch noch zu Bedeutung kommen könnten, und wurde durch die anderen ergänzt. Die anderen waren in diesem Kreise sein Nachrichtenmann, der Regionalchef, meist noch ein weiterer Redakteur (vielleicht aus dem Wirtschafts- oder Kulturbereich), ein bis zwei Kollegen vom tagesaktuellen Fernsehen und der Programmdirektor. Regelmäßig kam es zu einer Plauderei, die vom Zeitgeschehen häufig ins Philosophische wechselte, Daran waren vor allem Heinz Kerneck und Harry Pross beteiligt. Seltsamerweise führte dabei der Intendant mitunter auch die Qualität von Lebenserfahrung ins Gefecht – und dies einmal gar wörtlich: denn er (Kriegsteilnehmer wie Pross, beide pazifistisch gesonnen) blinzelte verständnisinnig oder zustimmungheischend Pross an und verwies uns übrige darauf, daß manche Probleme durch eine Handvoll entschlossener Männer einer pommerschen Infanteriedivision zu lösen seien. Das war so ein preußischer Versuch des Thüringers Kerneck am Badener Pross, der dazu dann sein äußerst zivilistisches Gesicht beitrug, aus den Augenwinkeln schmunzelnd. Überhaupt ließ diese halbe Stunde, wenn sie sich mal ausdehnte, Heiteres,
Absurdes zu, härtere Grundsatzdebatten allerdings nicht immer meidend.
Besonders stolz war unsere Station auf ihre »Europäischen Wochen«, in denen sie seit langem 3 jährlich einmal zusammen mit Rundfunkleuten eines anderen Landes Programm machte. Nun schien es uns wichtig, unsere Themen in Osteuropa zu finden 4 . In lebhafter Erinnerung ist mir die Kooperation mit Prag. Kerneck, Pross und ich reisten 1964 als Vorbereitungsgruppe unserer Anstalt in die Tschechoslowakei, um Personen, Landschaften und Probleme kennen zu lernen. Es entstanden Freundschaften, die jedoch im Prager Frühling stärker blühten als danach. Auch in den folgenden Jahren wurde ein aktiver Programmaustausch fortgesetzt, für den unser Unterhaltungschef Dieter Rohkohl die Federführung vom Politikressort (aus naheliegendem Grunde) übernahm.
In welchem anderen, benachbarten Ort sehe ich Harry Pross vor mir? Im Cafe »Verrückt« des Malerdorfs Worpswede. Dort fand alljährlich unsere Programm-Klausur statt, die zwei Tage lang alle verantwortlichen Redakteure zusammenkommen ließ. Das Eigene einer Redaktion und das Mögliche aller Sachgebiete äußerten sich hier in Information, Befragung,
Analyse und Planungsabsicht. Fünf Jahre war Harry Pross dabei. Er war Gewähr dafür, daß Gewohntes nicht zur Abnutzung kam, daß Neues bedacht und Nötiges versucht wurde. Wenn dann am Abend die klaren Schnäpse kreisten, schlürfte er sein Wasser und gab ihm Würze aus der Pfeife Tabaksqualm, die ein Instrument seiner Bedachtsamkeit zu sein schien, das einem leichtsinnigen Temperament leise Überlegenheit entgegensetzte.
Pross war ein Muster an Nichtgeschwätzigkeit. Das trieb er einmal auf die Spitze, als er zu einem Karnevalsvergnügen (man bedenke: in der Hansestadt) in fernöstlichem Kostüm erschien – ich glaube, als Chinese – und bis in den frühen Morgen stumm blieb. Seine Geste besagte, er spreche leider nicht die Landessprache. Ich denke, es war sein Einfall, sich zu schonen in einer Nacht, von der er manches überflüssige Gerede wohl erwarten konnte. Doch seine Konsequenz kannte Grenzen: morgens sah ich ihn sich plötzlich mit einer Kollegin (noch dazu vom vermaledeiten Fernsehen) im Tanze drehen; da hatte er seine Sprache wieder gefunden. Die Maske benutzte er nur, solange er’s mochte.
Gerade die Lobrede drängt mich dazu, auch zu fragen, ob Harry Pross an den Bremer Mitarbeitern, die er zu unverkennbaren
journalistischen Ansprüchen zu führen trachtete, Enttäuschungen erlebt habe. Eine ist mir in Erinnerung, als er einmal kopfschüttelnd und besorgt monierte, er träfe sie zu oft mit Illustrierten an, nicht genug mit Büchern… Nun muß ich aber davon berichten, daß für Pross in Bremen ein Nachfolger zu suchen war. Er hatte einen Ruf an die Freie Universität Berlin bekommen, und dachte, fünf Jahre Rundfunkpraxis in einem festen Job sei für seinen Lebenslauf wohl auch genug. Daraufhin ging Heinz Kerneck mit Pross und mir in den Wald, wo wir einander unsere Vorschläge beibringen wollten. Jeder von uns hatte einen: Pross präsentierte Ulrich Schiller, derzeit für den WDR in Moskau, Kerneck einen anderen Auslandskorrespondenten, ich – nach einigermaßen schonender Vorbereitung – Gert von Paczensky, der von seiner »Panorama«-Zeit her in lebhafter Erinnerung war, jetzt aber als einer galt, der aus dem Nest der ARD gefallen war und es beschmutzt hatte. Nach diesem Spaziergang wollten wir uns erneut verabreden: wir hatten interessante Namen, wenn auch noch keine Einigung. Darüber kam aus Heinz Kernecks Kururlaub die Nachricht von seinem jähen, aber sanften Tod. Unseren Chefredakteur erreichte sie, während Radio Bremen in Bestürzung verharrte, auf einer Dienstreise bei Kassel. Er drehte um und sprach im Radio seinen Kommentar auf Heinz Kerneck.
Das Amt des Kommentators war in manchem wichtigen Falle seins gewesen. Aber nun hatte Pross auch seinen Freund verloren, wir alle mit ihm den Chef. Daß ich zu seinem Nachfolger gewählt wurde, steht auf einem anderen Blatt: zwischen Last und Ansporn hatte ich kaum zu wählen. Dieses Amt wurde meine Pflicht, während das bisherige mir immer Kür geblieben war.
Zu meiner ersten Regung gehörte, Harry Pross zum Bleiben zu bewegen und ihm die Programmdirektion (für Hörfunk und Fernsehen) anzubieten. Jüngst hat Pross einmal beiläufig rekapituliert, daß »zwei solche Windhunde« an der Spitze dieses Senders wohl doch zu viel gewesen wären…
Wie dem auch sei, wir beiden Übriggebliebenen gingen noch einmal in den Wald und einigten uns auf Prossens Vorschlag für die Nachfolge in seinem Amt: Ulrich Schiller wurde unser Kandidat. Als er aus seiner bisherigen Verpflichtung nicht vorzeitig loskam, rang ich meiner Aufsichtskörperschaft eine ungewöhnliche Lösung ab: auf Schiller zu warten und für ein Jahr Gert von Paczensky mit einem Gastvertrag als Chefredakteur nach Bremen zu holen. Geringere Nachfolger sollten nach meiner Überzeugung weder Pross, noch das Haus, noch die Kollegen bekommen.
Gegenwärtig ist mir unsere Jahres-Pressekonferenz 1968.
Dazu luden wir traditionsgemäß ein, um die wesentlichen Neuerungen unseres Programms vorzustellen. Ich hatte Pross gebeten, ein persönliches Extra beizusteuern, wenn er möge, nämlich über seine Erfahrungen auf dem Bremer Stuhl. Dies tat er nur nebenher und überraschte mit einer wirklich neuen Überlegung, die mir damals noch wenig ausgegoren vorkam. Vielleicht spielten da schon die ersten Vorbehalte hinein, die ich sogleich aus dem Unterbewußtsein, später recht essentiell dagegen entwickelte.
Pross also regte in diesem letzten Jahr seiner Bremer Zeit an, die Basis der Redakteure mehr in die Programmentscheidungen einzubeziehen und sie bei Vakanz auch ihren Chef wählen zu lassen, was einem Vorschlagsrecht an Intendant oder Aufsichtsgremien ziemlich ähnlich sah, wenn es nicht noch mehr bedeuten sollte.
Die Journalisten von den Zeitungen stiegen übrigens nicht sehr stark in diese ersten Gedanken ein, die sich als ein Anfang der Projektion von redaktioneller Mitbestimmung entpuppten. So kann Pross als ein Vater der Redakteursausschuß- und Statutenbewegung gelten, die in der Folgezeit Furore gemacht hat.
Als ich indessen die Auseinandersetzung damit, vor allem mit den daraus speziell in Bremen erwachsenden »Missverständnissen« gegenüber den Aufsichtskörperschaften,
der Rundfunkgewerkschaft und der Bremer Bürgerschaft (Landtag) auszufechten hatte, war unser Meister bereits auf akademischem Pflaster in Berlin. Die Sache kann und muß hier retrospektiv nicht näher ausgetragen werden. Tatsache ist jedenfalls, daß die Novellierung des Radio-Bremen-Gesetzes und die Modifikation des Intendantenprinzips späte Folgen solchen ersten Umdenkens sind. Ich gäbe viel darum, wenn ich Heinz Kernecks Meinung auf diesem Felde noch hätte erfahren können. Und selbst eine genaue Rückbetrachtung zusammen mit Harry Pross steht noch aus – vielleicht für unseren inzwischen eingetretenen zivilen Unruhestand. In der Zwischenzeit habe ich in Sachen Mitbestimmung, vornehmlich durch meine Fortbildungsarbeit, wohl auch meine Lektion gelernt.
Wenn ich es mit Abstand richtig sehe, wirkte das, was Pross 1968 in Berlin an Studentenbewegung vorfand und mitgestaltete, auch auf die Redaktionsarbeit in den Funkhäusern zurück. Die studentischen Ferienhospitanten brachten nun nicht mehr nur einige willkommene Zugluft in die Redaktionsbüros und Studios, sondern entwarfen Mitbestimmungsmodelle, die alten Hasen zu schaffen machten, Hierarchen erst recht. Kaum hatten sie »im Sommerloch« eigene Sendungen versuchsweise über den Sender gepustet, kamen sie, sofern sie sich mit Fleiß
und Phantasie hervorgetan hatten, als Redakteure in Anfangsstellung aus ihren Studien ins Bremer Funkhaus zurück. Statuten kamen in Mode und Ansehen, die den älteren Kollegen in ihrem Handwerk bisher nicht notwendig gewesen waren und nun auch den sogenannten Mittelbau aufstörten. Diese Statuten wollten auch dem zunehmenden parteipolitischen Druck vor allem auf die Fernsehprogramme wehren, riefen aber fürs erste erheblich Führungsschwierigkeiten in den Anstalten selbst hervor. Das Umdenken an der Basis blieb nicht auf die Universitäten beschränkt und erfaßte weite Bereiche der intellektuellen Gruppen.
Hatte Harry Pross in Bremen ein konkretes Modell-Werkzeug für diesen Prozeß hinterlassen? Als die Historikerin Liselotte von Reinken die Geschichte des Rundfunks in Bremen schrieb, fragte sie Professor Pross fünf Jahre nach seinem Fortgang aus Bremen, wie sein dort praktiziertes Modell ausgesehen habe. Pross antwortete ihr am 26. Mai 1973, ein schriftlich niedergelegtes Modell habe es nicht gegeben, ihm sei es darum gegangen, die vorhandenen Potenzen zu aktivieren:
»Da ich seit 1967 wußte, daß ich ausscheren würde, versuchte ich das Initiativdenken zu modellieren. Ich sagte deshalb etwa folgendes: Die Strukturen der öffentlich-rechtlichen
Anstalt zeigen Erstarrungstendenzen und zunehmende Bürokratisierung, d.h. Tendenz zur durchgehenden Anweisung von oben nach unten und Aushöhlung der Verantwortlichkeit an der Basis. Es ist für die Zukunft des Senders wichtig, daß die Basis ungestört von äußerem Druck ihrem Erkenntnisinteresse nachgehen kann. Rundfunkarbeit ist auf Erkenntnis gerichtet. Diese und deren Ausdruck müssen frei sein. Es muß deshalb die Bürokratie von unten durchbrochen werden. Im Idealfall entstehen Kollegien auf jeder Stufe. Der erste Schritt wäre, den von der Spitze des Hauses berufenen Leitern Stellvertreter entgegenzusetzen, die von den Ressorts, einschließlich der Sekretärinnen, gewählt werden auf Zeit. Wenn das geübt ist, kann man sehen, die Chefs selbst zu wählen. Jedenfalls darf es keine Bestallung von oben ohne Zustimmung der Redaktionen geben. Denn die Auswahl der Mitarbeiter ist das Wichtigste am Radio. Dies ging dann als Pross-Modell durch die Gegend. Die Entwicklung ist in Bremen entgegengesetzt verlaufen, wozu, wenn ich es recht sehe, hauptsächlich die Gewerkschaft beigetragen hat…« 5
Seit ich privatisiere, seit 1978, sitze ich zuweilen in einem Seminar – Harry Pross gewissermaßen zu Füßen: wiederum, um ihm zuzuhören. Seine Vorlesungen haben inzwischen
Bremen weit hinter sich gelassen, sind aber doch Übungen für Fortgeschrittene, besonders für Journalisten, wenn sie fortgeschritten oder auf dem Wege dazu sind. Eine Bitte habe ich noch an den Bremer Chefredakteur im nun emeritierten Professor für Publizistik: er möge meinen Text mit richtigstellenden Notizen versehen; denn unmöglich kann seine Erinnerung mit meiner gänzlich übereinstimmen. Und außerdem: das Gegenlesen vor der Veröffentlichung ist immer eine gute Praxis, erst recht unter Betroffenen. So schicke ich also dieses Manuskript auf den großen Schreibtisch im Dachgeschoß des Allgäuer Bauernhauses, wo die literarisch-wissenschaftliche Werkstatt von Harry und Christa Pross in beständiger Blüte stehen möge.
Meinen subjektiven Bericht habe ich durch einen Fächer weiterer persönlicher Äußerungen gleichsam objektivieren wollen. Die habe ich – anfechtbar, aber aufschlußreich, wie ich meine – auf folgende Weise bewirkt: zehn Mitarbeiter aus Harry Pross‘ Bremer Crew habe ich bewußt »überfallartig« mit sechs Fragen konfrontiert und erfreulicherweise (trotz Urlaubszeit) sechs spontane Antworten erhalten.
Sie stammen aus unterschiedlichen Ressorts: von einem Nachrichtenmann, einem Magazin-Redakteur, einem Regionalprogrammacher, einem politischen Kommentator, einem Zeitfunk-Kollegen und einem Kulturredakteur. Diese sind nicht identisch mit den heutigen Positionsbezeichnungen dieser auch jetzt noch für Radio Bremen arbeitenden Kollegen > 6 . Die freilich gekürzten Antworten erlaube ich mir in der folgenden Collage zusammenzufassen. Auch in der rubrikweisen Darstellung dieses Frage- und Antwortspiels geben die Zitate aus der damaligen Nähe zu Harry Pross eine so unmittelbare Beschreibung, wie ich sie isoliert nicht liefern könnte. Zugleich dokumentieren sie ein Stück Rundfunkarbeit.
Welche Eigenschaften der Person Harry Pross oder seiner Arbeitsweise in seiner Bremer Radiozeit fallen Ihnen heute am ehesten ein?
Die Souveränität, mit der Harry Pross sein Amt verwaltete und die er im Umgang mit Menschen und Themen an den Tag legte.
Harry Pross sehe ich heute noch in seinen gediegenen englischen Anzügen in unserer Konferenzrunde sitzen, mit seinen ruhigen
Bewegungen Gedanken entwickeln, die auch in ein historisches oder soziologisches Seminar paßten, mit eindringlicher Stimme meist sehr leise sprechend, fast immer freundlich, nur manchmal spürbar gereizt, wenn ihm allzuviel Begriffstutzigkeit oder Egozentrik begegnete.
Seine gelassene, fast heitere Art, seine damals die Umwelt zum Teil schockierenden Thesen für journalistische Arbeiten und deren Kriterien, beharrlich unter die Redaktionen zu bringen, ohne den Chef dabei herauszukehren.
Irgendwie englisch, der Mann. Trenchcoat, Bowler, Pfeife, ein Gentleman des Journalismus. Die Stimme »distinguished«, leise. Man mußte gut hinhören, um nichts zu überhören. Wie er konnte nur einer sprechen, der viel auf den Staat reflektiert hatte. Das Wort »Staatsferne« hörte ich zum erstenmal, von ihm leise vorgetragen, in einem seiner Quasi-Seminiare, die fast wöchentlich um seinen Schreibtisch herum sich entspannen.
Ein klarer Kopf, der die Stifteköpfe seiner Redakteure im Diskurs aufzuklaren sich immer wieder die Zeit nahm! Ein eindringlicher, mal ironischer, mal skeptisch illuminierter Blick, der das Gewirr des Unwichtigen durchschaute und den Befund in knapper, gepflegter Sprache weitergab.
Welche Merkmale stellen sich für Sie bei längerem Nachdenken nach so langer Zeit ein?
Der Weitblick unseres damaligen Chefredakteurs in politischen Angelegenheiten; das gilt auch für das Maß an Vertrauen, das er seinen journalistischen Mitarbeitern entgegengebracht hat. Den Problemen auf den Grund zu gehen, da, wo sie für jedermann, auch für Hörer mit Hauptschulbildung, nachvollziehbar wurden. Das kostete Zeit zum Gespräch und wäre bei heutigem Sendezeitdruck und der Sendehäufigkeit wohl kaum noch als tägliche Gewohnheit möglich.
Harry Pross war und ist vermutlich heute noch die Verkörperung eines gewissen Widerspruchs zwischen seiner politischen Überzeugung, die Liberalität und radikaldemokratische Verfassungsgrundsätze verband, und seinem eher großbürgerlich-akademischen Individualismus, dessen Elite-Charakter zwar unausgesprochen, aber im täglichen Umgang doch spürbar war.
Die Pross’schen Forderungen von damals sind heute zu Meilensteinen im Journalismus geworden. Leider aber führen sie auch zu täglichen »Grenzverletzungen« schwerer Art. Der »Schmuggel« blüht und die »Zollpapiere« stimmen bei vielen nicht.
Der Chefredakteur lehrte uns bei aller Schnelligkeit, die die Aktualität gebietet, auch die Hintergründe der Ereignisse zu bedenken, Zusammenhänge darzustellen. Er selbst tat es mit der ihm eigenen Gelassenheit und konnte dabei auf einen immer wieder verblüffenden Wissensschatz zurückgreifen.
Gemerkt habe ich mir den offenkundigen Größenunterschied zwischen ihm und uns. Obwohl wir in derselben Etage arbeiteten, führte der Weg zu ihm ins Zimmer irgendwie bergauf. Erinnerungen an die Gespräche mit ihm sind für mich meist auch Erinnerungen an die eigenen Grenzen. Gemerkt habe ich mir, daß, obwohl er Herr, wir gleichwohl nicht Knechte waren; dazu war er ein zu begabter Lehrmeister und zu besorgter väterlicher Freund.
Was, meinen Sie, haben Sie am meisten von unserem damaligen Chefredakteur gelernt?
Dinge in einen größeren Zusammenhang zu stellen, um sie begreifbar machen zu können; gelernt habe ich, daß Fakten eher Meinung bewirken, als dies eine Meinung könnte.
Am ehesten ein unbewußt wirkendes Vorbild in Pflichttreue als Journalist gegenüber der Öffentlichkeit auch dann, wenn das eigene persönliche Interesse woandershin zog.
Die Unbefangenheit und Festigkeit, am eigenen Urteil festzuhalten, auch wo es — im Kommentar etwa — den Tendenzen jener politischen Gruppierung widerspricht, in deren Dunstkreis man sich aufhält.
Bei Streitfällen tolerant zu sein, Journalismus stärker als Gesellschaftsfunktion zu nutzen, politischen Mythos abzubauen.
Was uns jungen Sprintern gut tat: der Boß hörte auch zu, ließ andere Meinungen gelten. Er lobte und tadelte. Letzteres seltener, dann aber knapp und treffend. Mitteilung an einen Mitarbeiter: »Ich habe Ihren Beitrag ausgeschieden!« Temperamentsausbruch a la Pross. Er schied aus … Und wenn der Ärger raus war, blieb die Tür offen.
Er nahm sich Zeit für uns, nicht nur zwischen Tür und Angel. Dabei kam Harry Pross schnell zur Sache. Small-talk war nicht seine Art. Er bot und erwartete Präzision im Umgang mit Sprache, nicht ohne selbst gelegentlich bei der Übermittlung seiner Gedanken ins Nuscheln zu verfallen (es muß an seiner Pfeife gelegen haben).
Für den guten Journalisten gibt es nie genug zu wissen und nie genug zu zweifeln.
Was haben Sie inzwischen davon (unbewußt oder mit Absicht) wieder aufgegeben oder abgestreift?
Von all dem habe ich bisher nichts aufgegeben und werde es wohl auch künftig nicht tun.
Die totale Ausuferung dieser Dinge zu tolerieren, diesen von Pross aufgestellten Postulaten höchst eigenwillige, zum Teil unseriöse Mäntelchen umzuhängen und sie dann zum Maß aller Dinge zu machen.
Es fällt mir nicht immer leicht, Pross’sche »Väterlichkeit« nachzuleben.
Ich hoffe, daß ich davon noch nichts aufgegeben habe. Was nicht ausschließt, daß ich mir etlicher Sünden schmerzhaft bewußt bin.
Worin unterscheiden sich Ihre seither gebildeten Ansichten, gemachten Erfahrungen oder Ihre gegenwärtig geübte Praxis am stärksten von damals?
Meine Ansichten haben sich nicht geändert.
Ansichten und Erfahrungen der sechziger Jahre waren ja stark generationsbedingt. Ich sympathisierte mit der Studentenbewegung, wäre aber — als Hochschullehrer — sicherlich in Konflikt mit den Rebellen geraten, weil meine Rolle und gewisse altmodische Vorurteile über Leistung dahin geführt hätten. Die Distanz des Chefredakteurs gegenüber manchen Exzessen unserer eigenen Redakteursbewegung, die dann manchmal zu leiser Enttäuschung
– vielleicht auf beiden Seiten — führte, ist mir erinnerlich.
Die Veränderung der journalistisch-redaktionellen Praxis gegenüber den sechziger Jahren ist deutlich, soweit sie Schnelligkeit auf Kosten von Zuverlässigkeit der Recherche fordert, bzw. immer wieder unvermeidlich macht. Nachdem ich nun zehn Jahre Magazin-Redakteur bin, muß ich gestehen, daß meine Kritik an dieser Sendeform eher stärker als schwächer geworden ist.
Heute liegen Ergebnisse bzw. Erkenntnisse der damals von Pross unters Fußvolk gebrachten Thesen vor. Sie sind zum Teil mehr als ernüchternd: stundenlange Grundsatzdiskussionen, interne tägliche Grabenkämpfe, je geringer die Qualifikation, umso größer der Anspruch auf Durchsetzung der eigenen Meinung, die (zum Teil bewußt) falsche Interpretation von innerer Pressefreiheit, Mission statt Information…
In der Verfolgung seiner Ziele war der Mann aus dem Südwesten ein Preuße. Präzise, verläßlich. Auf sein Wort konnte man bauen. Er stand hinter seinen Leuten. Kritik von oben lenkte er auf sich und ließ keinen im Regen stehen. Dabei gedieh ein Teamgeist, an den ich heute nur noch denke, wie Grimmsche Märchen beginnen: »Es war einmal …« Ich wünsche manchmal diese Vergangenheit zurück, bei Radio Bremen geprägt vom Triumvirat Kerneck, Abich, Pross.
Rundfunk ist ja immer zugleich Mundfunk und damit in der Gefahr, geschwätzig zu werden. Ich verhalte mich inzwischen öfter quer zu meiner damaligen Tendenz und zum allgemeinen run auf die Mikrophone.
Was würden Sie heute, wenn Sie Chefredakteur wären, jüngeren Kollegen besonders empfehlen?
Allen Dingen auf den Grund zu gehen und sich stets auf die Seite der Schwächeren zu schlagen.
Einfühlung in die Welt der Vorurteile, Ängste, Hoffnungen anderer gehört dazu, mit anderen zu kommunizieren, gleichgültig ob man sie in bestimmten Ansichten, Vorstellungen bestätigen oder verunsichern wird.
In der Welt, die von der Sprache der Verwaltung von Sachen, mörderischen Zwängen geprägt ist, kann Journalismus auf die Dauer nur menschlich bleiben, wenn er in der Motivation und im Stil noch Brücken zur Welt der Literatur findet. Reportage, Kommentar sollte eigentlich möglichst auch politisches Feuilleton sein. Aber das ist vielleicht eine spätbürgerliche Utopie.
Ich würde Pross’sche Thesen vermitteln, wie sie gedacht waren, aber nicht das, was daraus zum Teil geworden (verfälscht oder verkommen) ist.
Setzen Sie in jedem Disput voraus, der andere könnte recht haben. Wenn sie die besseren Argumente des anderen übernehmen, haben Sie gewonnen, nicht verloren.
Du genießt kaum absteckbare Privilegien: sie sind dir nur verliehen, damit du deine demokratische Kontrollrolle ausüben kannst. Sobald du Komplize der Macht wirst, hörst du auf, demokratischer Journalist zu sein.
Ehe du die Kategorien von Klassenkampf aus der politischen Ökonomie in die hierarchische Struktur des Rundfunks (oder der Hochschulen oder der Armee) überträgst, denke lieber erst einmal nach. Nicht jeder, der »oben« ist, ist ein Ausbeuter, nicht jeder, der »unten« ist, ist ein Proletarier. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Raten könnte ich, Pross zu lesen.
Werdet nicht Chefredakteure, würde ich sagen, denn dann müßt ihr, leider sind die Verhältnisse inzwischen so, den seit den Tagen von Pross irreparabel gedunsenen Apparat schmieren und hättet keine Zeit mehr, journalistisch zu arbeiten. Übrigens, jener Pross, ihr Lieben, hat vor dem Untergang der Titanic umgebucht und ein anderes Vehikel bestiegen. 7
Anmerkungen
1 Carl Zuckmayer (1938) über Ödön von Horvath
2 Hans Herbert Westermann
3 ab 1950
4 1963 war eine polnische Woche zustandegekommen
5 Liselotte von Reinken, Rundfunk in Bremen 1924 – 74, Bremen 1975, S. 409
6 Verfasser hat seine eigene Reminiszenz abgeschlossen, bevor er am 13. August seinen Fragenkatalog nach Bremen schickte.
7 Zu danken habe ich für diese unbefangenen und aus beträchtlicher Radioerfahrung gewonnenen Auskünfte den Bremer Kollegen Klaus Frieder Bastian, Günter Demin, Wilhelm Fuchs, Wolfgang Jurk, Kurt Nelhiebel und Horst Vetter.