Wenn im weissen Vollbart Lew Kopelew die Stimme erhebt, hat er aufmerksame Zuhörer. Sie wollen aufnehmen, was der aus der Sowjetunion ausgebürgerte und in der Bundesrepublik eingebürgerte Schriftsteller zur alten und neuen Heimat zu sagen hat. Er hat sich als unermüdlicher Anwalt der Versöhnung und als Übersetzer beider Literaturen einen Namen gemacht. Er ist eine moralische Autorität.
Das war nicht immer so. Als ich ihn vor bald 30 Jahren zum ersten Mal in Moskau besuchte, mussten wir auf die Strasse gehen, um unbelauscht miteinander sprechen zu können. Die Wohnküche der Kopelews war ein Sammelpunkt von Dissidenten und wurde überwacht. Die unvergessene Raissa Orlowa-Kopelew hat sie beschrieben. Deutscher Besuch war gefährlich, denn wegen »Mitleids mit dem Feind« war der Major K. beim Einmarsch der Sowjetarmee in Ostpreussen verurteilt und ins Lager geschickt worden.
Dieses Mitleid war nicht selbstverständlich. Als Sohn jüdischer Eltern in der Ukraine aufgewachsen, hatte der Student der Literatur und überzeugte Kommunist den deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die slawischen und jüdischen »Untermenschen« als Opfer erfahren.
Er nutzte seine Deutschkenntnisse in einer Propagandakompanie und fühlte sich persönlich verantwortlich, als er sah, wie die Saat des Hasses aufging, die beide Kriegführenden gesät hatten.
Das unterschied Kopelew von seinen deutschen Kollegen bei der Wehrmacht, die anschliessend im »Kalten Krieg» die selben Klischees globaler Verurteilung gebrauchten, die sie unter Hitler entwickelt hatten: das Reich des Lichtes hier – das Reich der Finsternis dort. Die Erfahrung des Irrationalen hat ihn zur Vernunft gebracht. In einem Gespräch, das Klaus Bednarz mit den Freunden Heinrich Böll und Lew Kopelew führte, stellten beide fest, dass sie aus Unkenntnis «aufeinander geschossen« hätten.
Als deutsche Politiker, die sich heute nicht genug tun können, sich mit Russen, Balten oder Ukrainern zu versöhnen, noch jeden Kontakt mit Sowjetmenschen ablehnten, bot Kopelew in Moskau die Lösung an, die Übel und Verbrechen nicht den Völkern nachzutragen. Denn Völker bestehen nicht nur in Jahren oder Jahrzehnten, in denen sie von Verbrechern beherrscht werden. Es sind wenige, die sich schuldig machen, aber viele werden schuldig, indem sie die Untaten verdrängen oder gar als Heldentaten feiern. Das war Kopelews Meinung in den sechziger Jahren, als wir feststellten, dass wir 1942/43 am Ilmensee einander »gegenüber gelegen« hatten.
Es ist seine Meinung noch heute. Im dem Vorwort, das er zu dem Buch »Russenlager« geschrieben hat, das Heinz Weischer über russische Kriegsgefangene in seiner Heimatstadt Hamm (Westfalen) 1992 vorlegt, schreibt Kopelew: »Von zehn deutschen Kriegsgefangenen in Russland starben drei bis vier, von zehn russischen Kriegsgefangenen in Deutschland sieben bis acht; in den sieben Jahren von 1939 bis 1945 kamen sieben Millionen Deutsche als Kriegsopfer um, dagegen haben die Völker in der Sowjetunion in wenigen Jahren – zwischen 1941 und 1945 – zwanzig Millionen Tote beklagen müssen. Diese schreckliche Arithmetik propagandistisch zu missbrauchen, ist ein Sakrileg. Ein einziger Kriegstoter ist schon zuviel.«
Feindbilder abzubauen, Fremdbilder vertraut zu machen – darauf war und ist Kopelews Wirken im vergangenen Jahrzehnt der grossen Umwälzungen gerichtet gewesen, wie seit dem Kriege. Er wird diese Arbeit fortsetzen, solange er die Möglichkeiten dazu hat. Sein Lebenswerk soll die editorische Leistung krönen, die er mit der Universität Wuppertal begonnen hat: Aus dem Vergleich der Deutschlandbilder in der russischen Literatur und der Russlandbilder in der deutschen Literatur Brücken zwischen Ost- und Westeuropa zu schlagen: »Der Sinn meines Lebens liegt darin, mich für Toleranz und Freiheit des Wortes einzusetzen.«