Stuttgart in den fünfziger Jahren: Bäckermeister standen früh auf und buken knusprige Brötchen. Nachmittags zeigten sie in ihren Schaufenstern feine Kuchen, die herzustellen sie vor dem Kriege – zum Beispiel in Dresden – gelernt hatten. Baumkuchen machten die Frauen mollig. Bürgersleute strengten sich an, weil sie ihr gepumptes Geld möglichst bald durch ihr eigenes ersetzen wollten. Die Kinder hatten zu gehorchen, und sie taten’s, obwohl sie dann und wann ein bißchen murrten. Auch die Kollegen aus der intellektuellen Sphäre verhielten sich – zumindest was das Verdienen anging – zeitkonform. Als Abteilungsleiter eines Verlages oder als Runkfunkredakteur lebte es sich zweifellos bequem. Auch Hörspiele und jene neue Manuskriptart, die Feature genannt wurde, brachten erkleckliche Summen ein, so daß bald ein Volkswagen gekauft werden konnte.
Das war die Zeit der bulligen Mannsbilder in Nachtstudio-Redaktionen, als an der Technischen Hochschule ein Philosophieprofessor sein ästhetisch strenges Regiment ausübte und über jeden die rötliche Nase rümpfte, der sich einfallen ließ,
die Technik für zerstörerisch zu halten. Der Professor galt als Lehrmeister und Chefideologe einer Gruppe, die sich »Stuttgarter Schule« nannte und für konkrete Poesie zuständig war. Von jedem, der in der Literatur etwas anderes machte als gegenstandslose oder konkrete Poesie, wurde gesagt, der liefere nur Tränendrüsenware, während es mir schien, als förderten der Herr Professor und seine Gefolgsleute totes Wort-Material zutage, weil in ihren Hervorbringungen die Empfindung fehlte.
Deshalb verwunderte es mich auch nicht, als eine Lesung von Paul Celan in der Technischen Hochschule von Studenten mit Schwatzen, Rumoren und dem Knattern eines Motorrades gestört wurde, weshalb Paul Celan seine Lesung unterbrach und in den menschengefüllten Saal sagte: »Haben sie doch Verständnis.« Im Seminar jenes Philosophieprofessors aber bemerkte ein Student: »Wir müssen so weit kommen, daß wir die Formel für eine Assoziationsreihe an die Wandtafel schreiben können.« Darauf der Professor, schmunzelnd: »Das kann man nicht.«
In jenen Tagen ließ sich die Bildende Kunst von Meistern des Reißbretts in die Knie zwingen, und jeder, der die gegenstandslose Kunstrichtung nicht anerkennen wollte, galt als Hinterwäldler. Ich verdiente damals Geld als Sekretär und Kartenverkäufer
eines Kulturvereins, tippte Adressen und verfaßte Rundschreiben, auch für den Schriftstellerverband. Ich wunderte mich, weil die neu gewonnene Freiheit nach dem Krieg auch von Schriftstellern dazu benutzt wurde, dem Idol des Konkurrenzkampfes zu huldigen und Maßstäbe zu setzen, denen sich jedermann bedingungslos zu unterwerfen hatte, auch wenn es dabei nur um Geschmacksachen ging.
Diese Stimmung betäubte mich, und ich hörte verwundert zu, wenn Männer der Nachtstudio-Lobby darauf pochten, daß Gedichte heutzutage nur aus Wörtern und nicht aus Gefühlen gemacht werden dürften, während ich dachte: die haften doch an jedem Wort … Außerdem wurde behauptet, Londoner Stoffe seien denen aus Aachen vorzuziehen, wie italienische Schuhe solchen aus Kornwestheim. Und ich staunte über einen Redakteur, der einen grünschwarz karierten Anzug zu gelben Pumps und roten Socken trug. Er war glattrasiert und hatte sich sein Haar stoppelkurz scheren lassen, was ihm gut stand. Er lauschte einem Kritiker, der sagte, er könne ebensogut Käse wie literarische Meinungen verkaufen und sich weigerte, sein »Schußfeld« um dreißig Grad zu erweitern.
Harry Pross wirkte in einer solchen Umwelt sozusagen abdämpfend und mildernd. Mir schien’s, als fände er gewisse
Herrschaften zwar ein bißchen kurios, freue sich aber an ihren bizarren Lebensäußerungen. Jedenfalls wirkte er auf mich gentlemanlike, also englisch. Außerdem hatte er, zumindest äußerlich, einen Anflug von ästhetischer Existenz, fast im Sinne von Stefan George. Zuweilen zog er seine Brauen hoch und machte die blauen Augen groß und weit. Dann kam’s mir vor, als ob ich mir eine Meinung habe entschlüpfen lassen, die er – gelinde gesagt – nicht einordnen konnte. Auch was »den Alten in Bonn« anging, schien er mit mir nur bedingt einverstanden zu sein, wenn ich sagte, der sei ein grauer Menschenkenner und wisse allen Frechdachsen eins auszuwischen, beispielsweise, wenn er bemerkte: »Ich lese gern etwas für einfache Gemüter. Die Bildzeitung zum Beispiel.« Es war die Zeit, da mich Harry Pross aufforderte, Rezensionen für Rudolf Pecheis »Deutsche Rundschau« zu schreiben. Ich tat’s und wurde dabei von einem Parteigänger Gerhard Hauptmanns aufs Korn genommen, weil mir das Verhalten des Dichterfürsten im Jahre 1933 nicht gefallen hatte; doch erwies sich dies als Episode. Rudolf Pechel sagte, ich müsse dem »Grünwalder Kreis« beitreten, was ich tat, obwohl meine Einkünfte als Literat, Kulturvereinsbediensteter und Schriftstellerverbandssekretär solch einer Mitgliedschaft, der Beitragskosten wegen, nicht angemessen war; denn damals lebte ich,
zumindest finanziell, bescheiden. Geschieht dir recht, wenn du den Run auf’s große Geld nicht mitmachst, dachte ich. Für Harry Pross war damals eine Art schmerzhafter Gelassenheit bezeichnend, die ihn immer noch ziert. Er half, wann ihm dies möglich war, sagte, die »Deutsche Rundschau« sei eine literarische Zeitschrift, wenn ein Kollege einen politischen Artikel kritisierte, und wunderte sich über Vierzigjährige, die einer zweiten Pubertät anheimzufallen schienen. Auch dies gehörte damals zum sogenannten Trend, denn viele wollten nun etwas nachholen, das ihnen zuvor versagt geblieben war, was ich verstehen konnte. Mir schien’s kurios, daß unter diesen lebensgierigen Zeitgenossen solche waren, die als scharfe Kritiker eines Konsumdenkens auftraten, dem sie selbst verpflichtet waren; denn auch unter Schriftstellern wurde schon damals ebensoviel über Geld geredet wie unter Managern.
Harry Pross nahm solche Widersprüche schmunzelnd wahr und wunderte sich nicht über dieselben, weil er längst wußte, wie »das Ganze« ablief und daß jeder von Glück sagen konnte, wenn er durchkam, bemerkte er doch einmal: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die SPD – zumindest jetzt – eine andere Außenpolitik als die CDU machen könnte.« Das war um die Zeit, als Adenauer bei Chruschtschow in Moskau war und die Rückkehr
der letzten deutschen Kriegsgefangenen aushandelte.
Wenig später kaufte sich Harry Pross ein Haus im Allgäu, wo ich ihn einmal besuchte. So etwas würde dir auch gefallen, dachte ich, als ich die holzgetäfelten Wände und hölzernen Zimmerdecken sah, unter denen sich alte Möbel und ausgewählte Bücher so zusammenfügten, daß ich zu mir sagte: es gibt also sogar noch das, was man »Kultur« nennt … Wozu auch paßte, daß Harrys Ziehtochter in dem Bach, der beim Haus vorbeiplätscherte, Krebse fand.
Schon damals hatte solch ein Ambiente, wie man heute wieder sagt, Seltenheitswert. Und es schmerzte mich, daß Harry Pross Stuttgart verließ.
Seine Abschiedsparty ist mir noch erinnerlich, und wie dort ein Kollege über einen derb auftretenden Rezensenten sagte, der sei Zeitkritiker vom Dienst. Übrigens war’s derselbe, der später mit germanisch klingendem Pseudonym im Berliner »Tagesspiegel« eines meiner Bücher unter der Überschrift »Im Schmollwinkel des verkannten Poeten« verriß.
Ja, so sind sie beschaffen, die Beziehungen und Zusammenhänge der sogenannten geistigen Welt. An die Stelle rasierter Gesichter unter kurz geschorenem Haar, wie sie um 1960 üblich waren, traten lang-mähnige und bärtige Genossen,
mit denen sich Harry Pross ebenso ver- stand wie mit irgendwelchen Bürgerlichen, also zum Beispiel mit mir. Wir sahen uns in Stierstadt beim siebzigsten Geburtstag von Victor Otto Stomps, dem Verleger der Eremitenpresse, zu dem Harry Pross einmal sagte: »Du bist ein Solipsist.« Darauf fragte mich Stomps: »Weißt du, was das ist?«, und ich erwiderte: »Dasselbe wie ich.« – »Na, dann ist’s gut«, bemerkte Stomps.
Harry Pross ließ sein Schmunzeln sehen, das erst kürzlich auf einer Tagung in Stuttgart wieder sein Gesicht belebte, als er mich begrüßte und sagte, ich habe in den vergangenen Jahren einen richtigen »Schwabenkopf« bekommen, ein Wort, das sich auch positiv ausdeuten läßt.