Alfred Webers "Freier Sozialismus" IN: E. Demm (Hrsg.):
Alfred Weber als Politiker und Gelehrter. Stuttgart 1986, S.40 ff.
Alfred Webers «Freier Sozialismus – Ein Aktionsprogramm» erschien im April 1946. Es war ein milder Frühling im Jahre 46. Man konnte schon Anfang März in der Sonne sitzen und sich die Wunden lecken, die Nazitum und Krieg geschlagen hatten. Die wiedereröffnete Universität Heidelberg hatte ihr erstes Semester hinter sich. Ich auch.
Professor Weber, 1868 geboren, «Herr Geheimrat» angesprochen, verkörperte für uns Neulinge «das alte Heidelberg». Er war ein halbes Jahrhundert älter als seine Studenten, und so wird verständlich, daß wir aus ihm Besseres herauszuhören versuchten als die eher negativen Erfahrungen, die wir mit diesem Jahrhundert gemacht hatten.
Das war nicht einfach. Der untersetzte Mann in, wie mir schien, immer demselben grauen Anzug, entwickelte in preußischer Rede und unerbittlich vorwärts drängend lange Gedankenketten. Wer sich nicht übte, ihnen zu folgen, dem schnürten sie die Sprache ab.
Und wenn Weber dann am Ende das Einglas, das am seidenen Faden hing, ins Auge klemmte, die ungeheuren Brauen hochziehend, lag militärisch dressierten Studenten ein «Jawoll» näher als der Diskurs. Die Anfangsschwierigkeiten legten sich aber, sobald man gelernt hatte, das Zucken der Mundwinkel, die Fältchen in den Augenwinkeln und die Bewegungen der riesigen Ohren zu deuten. Er konnte gut zuhören, wenn er wohl auch nicht das zu hören bekam, was ihn an dieser neuen, seiner zweiten Kriegsgeneration, interessierte: «Hat überhaupt die Masse auch der geistig jüngeren Generation und Jugend … dieses Terrorregime als dasjenige empfunden, was es war, und als was es jede frühere Generation unserer Geschichte gefühlt haben würde, als eine Schmach, die die eigene Würde zerstört. Ich weiß es nicht.»
Seine ersten Erfahrungen mit uns bezeichnete er als «eher unbestimmt» und führte ebendort den Habitus, der sich zeigte, zurück auf die «Unmöglichkeit geradliniger gegenseitiger Mitteilung während des Terror-Regiments, aus dem wir kommen». Tatsächlich war das erste, was Alfred Weber uns abverlangte, jene Geradlinigkeit, die auch in der Hitlerjugenderziehung theoretisch gefordert, aber in der Lüge des Systems verbogen worden war. Er wirkte befreiend.
1946 empfanden wir Freiheit, aber nicht Frieden. Das von den Bomben verschonte Heidelberg war eine Idylle; man mußte nach Mannheim hinüberfahren, um die deutsche Wirklichkeit in ihrer ödesten Gestalt vor sich zu sehen. Insofern betrachteten wir Deutschland sozusagen von außen, ein Eindruck, der durch die frühen Kontakte mit anreisenden Überlebenden des «alten Heidelberg» von vor 1933 sich verstärkte, erst recht für diejenigen Studenten, die aus zerstörten Städten stammten.
Das Aktionsprogramm Freier Sozialismus (künftig: FS) bildete den zweiten Teil und den längeren einer grünen Broschüre des Verlags Lambert Schneider. Die Webersche Publizistik jener Jahre und diejenige der «Aktionsgruppe Heidelberg» die sich anschloss, sind ohne diesen Verleger nicht zu denken. Der Zeitschriftentitel «Wandlung» stand für das Programm des Verlages. Vor Webers Aktionsprogramm stehen Alexander Mitscherlichs «Entwicklungsgrundlagen eines freien Sozialismus». Mitscherlich, 1908 geboren, damals ein Schüler und 22 Jahre jüngerer Freund des Psychosoma-
tikers Viktor v. Weizsäcker, war mit Weber durch einen gemeinsamen Aufenthalt im amerikanischen Militärgefängnis Weinheim verbunden. Wer diese zweitägige Haft befohlen hat, weiß man nicht. Ich hoffe, es sei nicht Sergeant Henry Kissinger gewesen, der im Sommer 45 in Weinheim stationiert war und hauptsächlich durch sein Faible für blonde Mädchen aufgefallen ist.
Mitscherlich brachte in das gemeinsame Konzept die Weizsäckersche Anthropologie ein. Sein Nachdenken über «Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit» schlug sich politisch in der Forderung nieder: «Ebenso wie die Staats- und Gesellschaftsordnung es möglich machen muß, das Leben als freies zu führen und zu empfinden (also sich in der Leistung je nach Talent für diese Gemeinschaft wertvoll zu machen) – ebenso muß der Sozialismus einen Vorgang der Selbstbefreiung darstellen. Sonst wird er immer ein Mißverständnis sein. Sozialismus heißt Ordnung der Freiheiten der Menschen untereinander. Er kann also nur nach einer Befreiung des einzelnen von unberechtigten egoistischen Strebungen Wirklichkeit werden! Sozialismus muß den Fortschritt von der Polizeikontrolle zur Selbstkontrolle seiner Mitglieder bringen, oder er wird
sich nicht verwirklichen. Mitscherlich formulierte damit das Dilemma der Frühsozialisten neu; aber es führt da kein Weg zu Lenins Zynismus «Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser», mit dem auch die kapitalistische Welt von früher Ausbeuterei bis zur heutigen Verfeinerung anonymer elektronischer Kontrollmechanismen sich behauptet hat. Mitscherlich will gerade Mißtrauen abbauen. Er knüpft an die Menschenrechtspostulate der Aufklärung wieder an, für die Ordnung die Verhältnismäßigkeit von Freiheiten bedeutete. In seinem Bericht über die Nürnberger Ärzteprozesse hat Mitscherlich diese Position exemplarisch vertieft. Im FS lautet sie schlicht: «Der Grundsatz des Sozialismus, die mitmenschlichen Verhältnisse auf dem Boden der gegenseitigen Achtung zu ordnen, kann durch keine Wendung der Geschichte erschüttert werden.» Insofern führt der Ansatz direkt auf Kants «Anthropologie in pragmatischer Absicht» zurück. Gegenüber Marx und Engels führt Mitscherlich aus, daß ihre Hellsichtigkeit gegenüber unberechenbaren Entwicklungen begrenzt geblieben und daß es gewiß nicht in ihrem Sinne sei, «wenn wir sie dogmatisch verstünden». Ähnlich im gemeinsamen Vorwort: «Es soll kein Glaubensbekenntnis gegeben werden. Es wird soweit als möglich jede Polemik gegen frühere oder andere Verwirklichung vermieden.»
Der «Kalte Krieg» war noch nicht erklärt, und die Autoren erwähnen nicht, daß der «Freie Sozialismus» auch eine Gegenschrift gegen Kurt Schumachers nationalistische SPD-Propaganda sein sollte. Mitscherlich erinnerte erst in seinen Memoiren 1980 daran. 1946 ging es darum, durch eine antitotalitäre Innenpolitik «Sozial gefüllter Freiheit» außenpolitisch einen Beitrag zur ausdrücklich zitierten «Anatomy of Peace» zu geben. Damit verband sich die Hoffnung, die deutsche Einheit gegenüber den Sicherheitsbestrebungen Rußlands und Frankreichs zu erhalten. Dieser Gesichtspunkt tritt bei Alfred Weber stärker hervor als bei Mitscherlich. Weber hat ihn zeitlebens nicht aufgegeben, wie noch zu zeigen sein wird.
Die Autorität Alfred Webers in den ersten Jahren nach 1945 beruhte nur zum Teil auf Namen, Alter, den institutionellen Faktoren des «geistigen Heidelberg», – kurz, seiner äußeren Erscheinung. Die Schwächen waren da leicht zu erkennen, etwa in der Nervosität, mit der er im Colloquium (Bachstr. 22) Schokolade aß, während wir Hungerlinge mit großen Augen verfolgten, wie Rippe um Rippe verschlungen wurde.
Die Autorität Webers gründete in der Festigkeit, mit der er seine Schüler vor glatten Konzepten warnte und die Unerkennbarkeit des Metaphysischen betonte. Sein Agnostizismus gewann Vertrauen in sein Wissen, und die Unbefangenheit, mit der er Nichtwissen bekannte, machte ihn zur Autorität. In seiner eigenen Terminologie nannte Weber solchen unbeugsamen Willen zum eigenen Urteil und die Festigkeit, gegenüber Nachteilen danach zu handeln, «Charakter-Qualität.»
Die durchschnittliche Charakterqualität der Deutschen hat ihren Niedergang verursacht. Er hat es im «Abschied von der bisherigen Geschichte» ausgeführt, in den Reden und Artikeln wiederholt. Der FS ist eine Variation dieses Themas in politischer Absicht. Der Abfall nach der Stadtbürgerlichen Zeit in den Absolutismus der Regionalfürsten deutete Weber als Verlust an demokratischer Substanz. Die Deformation durch preußischen Kadavergehorsam in der dreijährigen Dienstzeit des wilhelminischen Reiches machte aus «Der dritte oder der vierte Mensch» als Frage nach dem «Sinn des geschichtlichen Daseins» war insofern ein introvertiert deutsches Buch.
Der Freie Sozialismus beginnt als Revisionismus: « … wir müssen politisch wieder da anfangen, wo unsere Entwicklung zu freier Selbstregierung abgebrochen wurde. Wir waren noch im 16.Jh. das demokratischste Land Europas» … «Die Reformationsbewegung war nur ein Teil von diesem starken, auf Selbstgestaltung drängenden Kräftestrom». Die Konsequenz kann nicht sein, «die großorganisatorischen und bürokratischen Tendenzen von heute ignorieren [zu] dürfen. Das gäbe nur Krähwinkelei und ist im modernen Raum nicht nur geistig, sondern auch wirtschaftlich und sozial unmöglich. Weswegen wir uns von föderalistischen Parolen freihalten und die unbedingt notwendige auf lokaler und regionaler Selbstverwaltung ruhende deutsche Einheit fordern».
Das heißt aber, die Gefahren des Bürokratismus erkennbar zu machen, also aufzuklären, «um der bürokratischen Durchorganisiertheit freie sozialistische Lebens- und Gemeinschaftsformen und freie politische Daseinsgestaltungen gegenüberzustellen und diese Formen und Gestaltungen derart in das Ganze einzufügen, daß der bürokratischen Maschine jeder totalitär verknechtende Übergriff versagt bleibt, weil sie sich an den organisierten lebendigen Gegenkräften der Masse der Bevölkerung bricht.
Es heißt, den «einstmaligen gleichmäßig auf praktische und geistige Freiheit gerichteten Deutschen in uns selber wieder ausgraben und seine Anlagen wieder herrschend machen. Es heißt, daß wir wieder vom Geist her Politik betreiben, was heute selbstverständlich bedeutet: demokratische und sozialistische Politik».
Was heißt das? Weber definiert den freien Sozialismus so: «Wir erkennen die Gesamtheit und den Einzelmenschen als die beiden Seiten eines Ganzen, die sich ergänzen und im Raum des Handelns freier Einzelmenschen aufeinander wirken sollen. Wir wollen in der Kollektivverbundenheit und dem kollektiven Handeln den Einzelmenschen als freie Persönlichkeit entfalten. Höchstentfaltung der Masse durch möglichste materielle und geistige Hebung aller Einzelnen und freie Persönlichkeit in der durch Menschlichkeit verbundenen Masse sind daher für uns Ziel und Grundlage des politischen Handeins. Denn alles sinnvolle politische Handeln gipfelt letztlich darin, das Niveau des Einzelmenschen, aller Einzelmenschen zu erhöhen».
Diese Definition wiederholt Postulate liberaler und sozialistischer Denker seit dem 18. Jahrhundert. Der Mensch als das «Individuelle Gemeinwesen», wie Marx ihn definiert, wenn auch vielleicht nicht verstanden hat, ist darin ebenso enthalten, wie Tocquevilles Ansicht der Amerikaner. Zweifellos aber wird man bei dieser Erklärung aus dem Jahre 1946 daran erinnern müssen, daß Alfred Weber 50 Jahre alt war, als der erste Weltkrieg endete, und seine aufnahmefähigsten Jahre als Zeitgenosse von Leo Tolstoi, Georges Sorel, Peter Kropotkin, Gustav Landauer, Vilfredo Pareto, Henri Poincaré, Henri Bergson, Benedetto Croce und politischer Praktiker wie August Bebel, Clemenceau, Briand und Stresemann, Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein hatte. Darüber sprechend hat er seinen Prager Kollegen Tomas Masaryk immer wieder gerühmt und an Friedrich Nietzsche kein gutes Haar gelassen. Masaryks Marxismuskritik hat er sich zu eigen gemacht.
Der Heidelberger Mitbewohner Stefan George schien ihm anregend, aber ohne Einsicht in die demokratische Grundtendenz des Jahrhunderts. Eine Biographie wird uns wohl Aufschluß liefern, ob es da Konkurrenzen um die «auserlesene Schar» der Schüler gegeben hat. Ein weites Feld für Dissertationen, da ja nicht nur Ernst Toller und Karl Zuckmayer, Mierendorff, Haubach,
Goverts, Lukacs, Bloch, Lask und andere gern zitierte Namen, sondern auch Goebbels und andere Nazis vom «Heidelberger Geist» gezehrt haben. Webers geistiger Habitus war mit dem selbstkritisch anerkannten Versagen im Ersten Weltkrieg vollendet. Die kränkenden Erfahrungen, die Weber wie andere Heidelberger Lehrer, die 1945/46 wiederkehrten, Radbruch, Hellpach, v. Eckardt, 1933 mit Studenten gemacht hatten, rechtfertigen sehr wohl die explizierte Weigerung, sich mit dem Gegebenen abzufinden; es müsse folgen «etwas Neues … , das … eine innere Kraft und Folgerichtigkeit hat, ein Echtes, das tragen kann und als Echtes Glaubwürdigkeit besitzt … Und das Echte ist, daß wir aus unserem Proletariertum, will sagen, aus unserem Verlorensein gegenüber dem äußeren materiellen Dasein und für unsere gemeinsame Rettung, also für eine sozialistische künftige Freiheit in diesem Dasein reden».
Die Entfaltung des Subjekts in seiner Kollektivverbundenheit ist das Ziel des FS. Weber setzt die Unerkennbarkeit des Metaphysischen voraus. Dieser Kant’sche Agnostizismus ist als «Transzen-
denz» und «immanente Transzendenz» bekanntlich eine Grundkategorie des Weberschen Soziologisierens. Er hat ihm nach dem Aufsatz «Unsere Erfahrung und unsere Aufgabe» sogleich Protest von christlicher Seite eingetragen nebst einer Stellungnahme von Jaspers in derselben Zeitschrift, 1954 dann den bekannten Irrationalismus-Vorwurf von Georg Lukacs, der freilich neuere Texte nicht zur Kenntnis nahm, als er «Die Zerstörung der Vernunft» schrieb. Zu sagen, daß man nicht weiterkommt, daß es Unerkennbares gibt, ist Freiheit. Die Freiheit ist transzendent, schreibt Jaspers in diesem Zusammenhang; – aber ihre Zeichen sind es nicht, würden wir heute hinzufügen.
Andererseits zieht der FS den modernen Staat in Betracht, «ein Raubtierstaat von seiner Geburt her», ein Zustand, der sich aller kultischen, religiösen und ideellen Fesseln entledigt hat. Weber sieht die Genese des Staates nicht viel anders als ihr Zeuge, Etienne la Boetie, Freund Montaignes, in seinem Traktat über die freiwillige Knechtschaft des Menschen. Während die geforderte Anerkennung der Transzendenz ein Postulat ist und, wie mir scheint, das enthusiastische Element des Konzepts, zeichnet sich der vorhandene Staat ja gerade durch Verneinung von Transzendenz aus. Ideologisch ist das für Weber die Nietzsche-Nihilismus-Problematik,
politologisch heißt es, von den in Rechtsform symbolisierten Machtzusammenballungen der Staatenwelt auszugehen, um in ihre gegenwärtigen Bedingungen ein Deutschland einzufügen, das innenpolitisch «Charakterrichtung auf Freiheit und Menschlichkeit» und Urteilsfähigkeit, «Selbstverantwortlichkeit» realisiert.
Das Kapitel Außenpolitik akzeptiert den Verlust der Ostgebiete als «schwer zu tragende Vergeltung», verneint Grenzverschiebungen im Westen Deutschlands, greift aber die zeitgenössische Idee der Internationalisierung des Ruhrgebietes auf.
Das Sicherheitsinteresse der europäischen Staaten wie die Idee der innenpolitischen Freiheiten verlangen, daß das Rüstungspotential auf Friedensproduktion umgestellt wird. Deutsche Gerichte und internationale Kontrolle sollen dafür sorgen, daß diese Produktion friedlich bleibt. Weber nimmt hier im außenpolitischen Zusammenhang den Abschnitt über Wirtschafts- und Sozialpolitik vorweg und erklärt, daß der FS die sozialisierte Wirtschaft nicht in
die Hände des Staates führt, – was ja bei der Definition des modernen Staates als amoralische Machtzusammenballung widersinnig wäre. Vielmehr sollen der Kreditapparat und die in Kartellen, Syndikaten und Konzernen zusammengeballte Schwerindustrie der «korrumpierenden Kapitalausstrahlung» entzogen und «unter wirksamste und dauernde gerichtliche Kontrolle» gestellt werden. Das betriebliche Modell ist die Jenaer «Zeiss-Stiftung».
Die spezielle Internationalisierung des Ruhrgebietes wird aber überflüssig, wenn man «Deutschland als Ganzes in eine internationale Organisation einfügt, die die Kontrolle über eine sozialisierte Produktion mit ausübt … Der optimale Rahmen und das weitaus beste Mittel einer derartigen Internationalisierung und Entgiftung durch Kontrolle wäre eine europäische Föderation.» Diese Föderation könnte unter französischem Vorsitz stehen und sollte England und Rußland miteinschließen. «Ein großer unter Beteiligung aller Interessierten aufgebauter wirtschaftlicher und politischer Befriedungskörper, der Deutschland als Ganzes und auf die Dauer natürlich mit Gleichberechtigung in sich schlösse.»
Weber begründete diesen Plan mit der Bedeutung der Ruhr im «industriellen Kerneuropa». Läßt man sie verkommen, so leiden auch die Randgebiete Kohle und Stahl sind die entscheidenden Industrien seines Konzeptes.
Das neue Stadium des Kapitalismus, das Sombart 1903 mit der Elektroindustrie heraufkommen sah, als er die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert beschrieb, kommt nicht vor. Die Atombombe auch nicht. Aber schließlich hieß der mächtigste Mann Europas damals Stalin – der Stählerne, und nicht «Lektro», obwohl doch Lenin nach Sombarts Lektüre den Kommunismus als Elektrifizierung plus Sowjetmacht definiert hatte. Und Stalin war 11 Jahre jünger als Weber.
Die für Weber untrennbare Internationalisierung des Ruhrgebietes und des ganzen Deutschland durch eine europäische Föderation einschließlich England und Rußland sollte psychologisch entspannen und den allgemeinen Wohlstand heben.
Im weltpolitischen Maßstab sollte das föderative Europa kein geschlossener Machtblock sein, sondern eines der «politischen und wirtschaftlichen Verdichtungszentren» sein. «Und es würde, das ist
fasst das wesentlichste, die durch keine atavistischen nationalen Kleinlichkeiten mehr gehemmte, innerlich befreite, geistige Teilnahme aller Teile von Europa, zu gegebener Zeit auch Deutschlands, an den großen internationalen Kräfteströmen möglich machen, die das nach diesem Kriege politisch neu aufzubauende Erdgesamt durchfluten können … und auch durchfluten müssen».
Dieses außenpolitische Kapitel hatte mehrere Colloquien zur Internationalisierung und Sozialisierung der Ruhr zur Folge. Weber hat die Aufgabe «Friedenssicherung ohne Staatsverknechtung» dann in seiner Broschüre: «Sozialisierung zugleich als Friedenssicherung» detailliert dargestellt. Obschon inzwischen die raubtierstaat1ichen Züge im Lager der Sieger sich verdeutlichten, hielt Weber daran fest, daß die Sowjetunion einbezogen werden müsse. Pfingsten 1947 schickte er den Jurastudenten Günther Schauerte und mich ohne Papiere nach Berlin, damit wir den Obersten Tulpanow von der Sowjetischen Militäradministration nach Heidelberg einlüden. Wir nahmen zur Tarnung des diplomatischen Auftrages unsere Freundinnen mit, ich die spätere Helge Pross, und
robbten durch den bekannten Tunnel zwischen Walkenried und Elrich (bei Göttingen)in den irreal existierenden Sozialismus. Wir kamen aber nur bis zum Presseoffizier des Berliner «Nachtexpress», einem Obersten Feldmann, der später die «Freiheit wählte».
Tulpanow kam nicht. Die Bourgeoisie, «diese ewig diskutierende Klasse», wie Ernst Bloch sie im Zusammenhang mit dem Hitlerputsch von 1923 genannt hat, diskutierte allein weiter. Es ist nicht auszuschließen, daß wir heute einen sicheren Frieden hätten, wenn es gelungen wäre, die Russen in die Diskussionsfalle einer europäischen Föderation zu locken; aber es läßt sich auch nicht beweisen.
Diskutieren könnte man aber darüber, ob die Föderation von Teileuropa, die wir heute mit einem geteilten Deutschland haben, das «Verdichtungszentrum» werden kann, das Weber sich vorstellte, und ob es nicht vielmehr jene «atavistischen nationalen Kleinlichkeiten» im Ost-West-Gegensatz vergrößern mußte, wie ja auch die Wirtschaftsrechnung nicht aufgeht, und die Völker, «lammfrommen Ordnungstieren» gleich, unablässig für diese teileuropäische Föderation draufzahlen. Damals ging ein Bonmot von Wilhelm Röpke um, «Die Schweiz ist nicht aus der Käseunion entstanden». Weber schrieb: «Die Reinigung Europas durch Umwendung
seines nationalen Gegeneinanders in ein nationales Zueinander, durch das politische Heraufheben seiner wirtschaftlichen Verwachsenheit in eine diesem Zueinander gerecht werdende Zusammenordnung ist offenbar ein wesentlicher, ja unentbehrlicher Teil dieser Aufgabe». Weber verstand nicht die wirtschaftliche Föderation als die Hauptsache, sondern die «Aktivierung der inneren Verbundenheit» auf einer «klein gewordenen Erde, in der Alles auf Alles täglich wirkt, und Alles von Allem täglich materiell und geistig abhängt.» Das ist die politische Dimension der Kultursoziologie; aber die geistige Krähwinkelei, in die wir und erst recht Osteuropa durch die «kleineuropäische Lösung» geraten sind, erweist sich schließlich als wirtschaftlich fatal und ideologisch korrumpierend. Der stramme Marsch beider Seiten in die Überrüstung kann den Verlust der Einheit Europas in den Nachkriegsjahren nicht korrigieren. Er führt zielstrebig in den Eklat, wenn nicht, unter viel schwierigeren Bedingungen als damals, jene „positive Aktivierung dieser inneren Verbundenheit“ Europas wirksam wird, die Weber 1946 voraussetzte, um eine „spätere Jahrhunderte vorbereitende Aufgabe zu erfüllen.
Die gegenseitige Abhängigkeit außen- und innenpolitischer Faktoren im „Aktionsprogramm FS“ geht von einem „unentrinnbar großorganisierten Dasein“ aus, das sowohl politisch wie sozialstrukturell „ausgedehnte bürokratische Apparatur erfordert. Es birgt „tödliche Gefahren in sich“: Die „Durchflutung“, die Weber für Europa fordert, wird im Inneren durch „Führercliquen“ als Formen „verkappter Diktatur und Oligarchie“ ertötet. Lähmung und Spontaneität des eigenen Urteilens, „da eine Auswirkung von frei verantwortlicher Spontaneität und Selbstverantwortlichem Handeln durch die Vermassung selbst illusorisch zu werden scheint“. Ferner die Manipulation der Kommunikationsmittel, die, „geschickt verwendet, zur Emotionalisierung und Urteilslähmung benutzt werden und die Ausschaltung der Spontaneität und Urteilsbildung der Einzelnen, die in der bürokratischen Großformation schon vorgebildet erscheint, vollenden können. Dazu braucht endlich nur noch die‚Führung‘ unterbauende und sie bis in jeden Akt des einzelnen hineintragende bürokratische Zellenorganisation zu treten, und faschistisch-nazistische Totalisierung als Grundlage des Terrorregiments ist fertig“.
In diesen Gefahren sind „kleine Handlungsgruppen … nur als Gegenkraft in einer bestehenden bleibenden Großformation möglich … Lokale Selbstverwaltung und regionale Partikularentscheidungen gehören dorthin, wo nur lokale und regionale Interessen in Frage kommen. Sonst werden in diese engeren Kreise Inhalte hineingepreßt, die dadurch verkrüppeln“.Dezentralisierung ja, aber keine Romantik und kein Spießertum,sondern: „Lebendige Gegenkräfte gegen die Gefahren der Großorganisation zu mobilisieren, zu aktivieren und handelnd zu gestalten, welche diese Großorganisation ihrer Notwendigkeit wegen anerkennen, sie aber gewissermaßen ausbalancieren und in Schach halten.
Weber ging von den Menschenrechten als Verfassungsgrundlage aus und plädierte, sie für diejenigen zu suspendieren, die sich im Terrorregime aktiv beteiligt haben. Wenn ich nicht irre, war aber schon 1946 ein Strafrechtslehrer an der Universität tätig, der ein Jahr zuvor als Kriegsrichter zwei junge Soldaten hatte füsilieren und zur Warnung an der Stadtgrenze hatte aufhängen lassen. Charaktere ähnlicher Qualität sind ja dann später auch in der Politik groß geworden.
Bei der personalen Verlegenheit, die sich nach 1945 in Deutschland ausbreitete, hatte Webers Mahnung, das Parteiensystem der neuen Ordnung „nicht in die Hände verkalkter Funktionärscliquen gelangen“ zu lassen, durchaus realen Bezug. Er schlug ein Zweiparteiensystem nach angelsächsischem Muster vor, wie überhaupt der „Geist des englischen Rechts“ importiert, oder soweit er aus der deutschen Aufklärung dorthin gelangt war, reimportiert werden sollte.
Also auch keine Proportionalwahl: „Die Parteien müssen lernen, daß sie im Rahmen des Zusammenschlusses in zwei Gruppen am besten zu durchgreifenden Erfolgen kommen können, und daß die Erfahrungen aller Parteizersplitterung schrecken“.
Dolf Sternberger und die „Deutsche Wählergesellschaft“ haben dieses Programm ja dann, ganz ohne freisozialistische Motive, versteht sich, zu verwirklichen gesucht.
Keine Proporzwahl, also auch keine Listen. „Die sozialistische Bewegung wird immer einer starken, im Grunde konservativen Masse sich gegenübersehen, die als Oppositionspartei auch dann nützlich ist, wenn sie als kritischer Faktor der sozialistischen Partei-
bildung gegenübersteht. Eine solche Opposition ist das stärkste und beinahe unentbehrliche Mittel gegen Verkalkung. Dies war der SPD ins Stammbuch geschrieben; die CDU wurde ja eben erst von verstreuten Honoratioren zusammengelesen, die ein Parteivolk brauchten.
Das Berufsbeamtentum wollte Weber auf diejenigen Bürokraten reduzieren, die als Exekutive unentbehrlich in dem Sinne sind, daß sie „von der Gesinnung abhängige wesentliche Entscheidungen in Händen haben“. Für die bisher beamteten Kleinfunktionäre und Techniker hielt er ein allgemein zu verbesserndes Angestelltenverhältnis mit Streikrecht für angemessen. Auch daraus ist bekanntlich nichts geworden, wohl aber behielt Weber mit seiner damals überraschenden Fixierung auf richterliche Kontrolle sowohl im politischen wie im sozialisierten wirtschaftlichen Sektor recht: so haben die Gerichte nach dem Ende der Besatzungsgewalt (1955) das von den Alliierten staats- und kommerzfrei, gewissermaßen freisozialistisch organisierte Rundfunksystem gegen die oligarchischen Ansprüche der Parteien verteidigen müssen, freilich ohne seine Lähmung verhindern zu können. Alte und neue Gerichte haben in der deutschen Demokratie eine Schlüsselrolle erlangt: sie setzen den von Gustav Radbruch vorangetriebenen Übergang zum
sozialen Recht fort. Webers Publikation enthält allerdings keinen Hinweis auf Radbruch, obwohl doch Radbruch ein Vorkämpfer des Freien Sozialismus gewesen ist. Ich weiß auch nicht, ob Radbruch der Publikation zugestimmt hat. Weder in der Bachstraße, noch am Friesenberg 1946/47 habe ich davon gehört.
Schließlich ist festzustellen, daß die peinliche Trennung der Gewalten, die Webers Konzept vorsah, tatsächlich durch den hohen Anteil von Beamten in den gesetzgebenden Körperschaften der Bundesrepublik unterlaufen worden ist.
Die Landwirtschaft wollte Weber zugunsten der einflutenden landlosen Bauern aus Ostdeutschland reorganisieren, ohne sie zu kollektivieren. Das Problem löste sich dann durch Abwanderung in andere Berufe und kleinkapitalistische Technisierung mit Staatssubventionen. Auf die Banken und Gewerkschaften gehe ich nicht weiter ein. Erstere sollten schärfer kontrolliert, letztere verstärkt, jedoch aus der Politik herausgehalten werden, „voll gleichberechtigte Mitträger der Produktion.
Generell: einige der Vorstellungen, die Weber 1946 entwickelte, sind sowohl in das Programm des Ordo-Liberalismus von und durch Alexander Rüstow vermittelt worden wie in das nachfolgende Godesberger Programm der SPD eingegangen. Während aber in
der Ideologie der sozialen Marktwirtschaft Rüstows Idee einer Verfassung, die sich nicht an den Interessen, sondern am „unzersetzten Kern des Menschen“ orientiert, von Erhards Konzept der „totalen Erfassung des Konsumenten“ gleichsam verschlucktwurde, hat die Sozialdemokratie mit Willy Brandt auf logische Forderungen des Nachkriegs zurückgegriffen und die geistige Entfaltung aller einzelnen proklamiert.
So ergab sich das merkwürdige Bild der 60er Jahre, daß die christlich firmierende Partei, von der „Hebung der materiellen Existenz“ ermattet, in Opposition ging, und die Sozialdemokratie „die zur Freiheit erhobene Spontaneität“ als Regierung proklamierte. Der neuerliche Regierungswechsel hat diese Fronten nicht getauscht. Wir haben mit fünf Bundestagsparteien ideologisch ein Zweiparteiensystem, nachdem die Sozialliberalen in der F.D.P. geschwunden sind. Wir haben auch die von Weber gewünschten spontanen Gegenkräfte gegen die Gefahren der Großorganisation. Die gegenwärtige Friedensbewegung wird zeigen, ob sie stark genug ist, mit ihren „kleinen Handlungsgruppen“ den bürokratischen Apparat „gewissermaßen aus (zu) balancieren und in Schach zu halten“. Das ist eine Frage der Erziehung, der „Charakterrichtung auf Freiheit und Menschlichkeit“ die der FS für alle Beteiligten vorsah.
Erziehung ist schwierig und meistens vergeblich. Deshalb müßte über Webers Erziehungsprogramm länger gesprochen werden, als es hier möglich ist. Ich fasse zusammen: „Erstens: Die Erziehung hat den Glauben an ihre umgestaltende Kraft zu finden … “ Sie findet ihn, wenn sie die verschütteten Anlagen zu spontaner Menschlichkeit und besonnenem Urteil mit der Goethesehen Maxime „der Ehrfurcht vor dem, was über uns, um uns und unter uns ist“ verbindet. Diese „in ihrer Tiefe transzendierte Haltung“ beinhaltet, „daß jeder gegen die Verletzung solcher Ehrfurcht, nach welcher Richtung sie auch auftritt, aufzustehen und bei welcher Gelegenheit immer sich dagegen einzusetzen hat.
Mit einem Wort: Charaktererziehung nach der Entwürdigung des Menschen im Nationalsozialismus. Diese Maxime kehrt in den organisatorischen Anweisungen zur Schülerselbstverwaltung, in Fortbildungsschulen, Inhalten, insbesondere dem Geschichtsunterricht wieder. Der Geschichtsunterricht soll universalhistorisch rückschauen und zugleich vorwärts in die Tiefe blicken. Die freiwilligen Jugendorganisationen sollen lehren, daß die Haltung des Stärkeren sein muß, dem Schwächeren zu helfen. Nachdem dieser
Teil der Erziehung auf Spontaneität zielt, soll gemeinsame Arbeit aller mit einfachen Aufgaben die junge Persönlichkeit gesamtheitlich zusammenfügen. Das ist die Idee des Freiwilligen Arbeitsdienstes der Jugendbewegung in den 20er Jahren gewesen. Für alle Schulen soll gelten, daß auf einen Lehrer, wie in der Sowjetunion, nicht mehr als 20 Schüler kommen. Darüber bundesstaatliche Unterrichtsministerien und Finanzen; aber darüber ein Bundesministerium, „das über die Einheitlichkeit der Erziehung wacht.
Webers Erziehungsprogramm führt also in die großorganisatorischen Gefahren zurück, nicht über sie hinaus. Das ist soziologisch nicht unbegründet.
Wir stehen deshalb am Ende vor der Frage: wer bestimmt die Qualität der Charakterqualität? Alfred Weber war ein Ergebnis der akademischen Bildung im wilhelminischen Reich; aber von genialer Spontaneität. Er lehrte Freiheit, Menschlichkeit und skeptische Selbstverantwortung über zwei Weltkriege hinaus.
Die heutige Jugend wird außerhalb der Familie von staatlichen Institutionen erzogen, die nichts auf Charakterqualität geben, und in ihrer Freizeit von der amerikanischen Unterhaltungsindustrie, die mit Brutalität und Angst ihr Geschäft macht. „Sozial gefüllte Freiheit“ sucht diese Jugend deshalb anderswo …
1 In: Freier Sozialismus, von Alexander Mitscherlich und Alfred Weber, Heidelberg 1946, S. 37-94. Auch in: Alfred Weber, Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Hrsg. Christa Dericum, München 1979. S. 159ff.
2 Alfred Weber, Unsere Erfahrung und unsere Aufgabe. In: Die Wandlung 1, 1945/46, S.52.
3 In: MitscherlichjWeber (wie Anm. 1), S. 7 -35.
4 Ebd., S. 13f.
5 Ebd., S. 14.
6 Ebd., S. 6.
7 Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse.
Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt am Main 1980, S. 134
8 Verfaßt von Emery Reves, New York 1945
9 Alfred Weber, Der dritte oder der vierte Mensch.
Vom Sinn des geschichtlichen Daseins. München 1953.
10 Weber, Freier Sozialismus (wie Anm. 1), S. 41.
11 Ebd., S. 42.
12 Ebd., S. 42f.
13 Ebd .. S. 43.
14 Ebd., S. 39.
15 Ebd., S. 56.
16 Wie Anm. 2, S. SOff.
17 Berlin (Ost) 1954.
18 Alfred Weber, Das Ende des modernen Staates.
In: Die Wandlung 2 (1947) S. 466.
19 Weber, Freier Sozialismus, (wie Anm. 1), S. 88.
20 Ebd., S. 76.
21 Ebd., S. 58.
22 Ebd., S. 58f.
23 Ebd., S. 61f.
24 Heidelberg 1947, S. 7 -10.
25 Weber, Freier Sozialismus (wie Anm. 1), S. 62. 26 Ebd., S. 62.
27 Ebd., S. 63.
28 Ebd., S. 64.
29 Ebd., S. 64.
30 Ebd., S. 65.
31 Ebd., S. 66.
32 Ebd., S. 67.
33 Ebd., S. 67.
34 Ebd., S. 64.
35 Ebd., S. 73.
36 Ebd., S. 83
37 Vgl. Alexander Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, Ffm. 1949 u.a.
38 Weber (wie Anm. 1), S. 89.
39 Ebd .. S. 94.