Liebe Frau Pross, verehrter Herr Professor, meine Damen und Herren,
es ist eine Ehre, eine Freude und ein Glücksfall für mich, heute hier sprechen zu dürfen. Reden zu dürfen für einen Europäer des 20. Jahrhunderts, für einen Menschen, der die Geschichte seines Landes und seine eigene zu einer Einheit verschmolzen, Erlebtes zu Erfahrung verarbeitet und daraus die Lehre für seine und unsere Zukunft gezogen hat. Die Lehre für sich selber, zu einem ständigen Einsatz für die Freiheit des Einzelnen und die Menschenwürde aller, und die Lehre für andere, als Redaktor, Publizist, Wissenschafter und Hochschullehrer. Hier reden zu dürfen ist ein Glücksfall für mich, und ich hoffe, dass er für Sie nicht allzu lästig wird.
Denn: Vor Ihnen steht ein Mann aus einem bergigen Land. Das muss gesagt sein vor einem Publikum, das den weiten Blick und das grossstädtische Leben gewohnt ist. In meinem Land ist der Horizont enger, die Grenzen sind strenger gezogen, nicht nur nach aussen, die Züge fahren pünktlich, und die Gedanken haben Verspätung.Das haben wir in den letzten zwei Jahren schmerzlich erfahren, als wir uns widerwillig unserer eigenen Geschichte stellen mussten.
Wir hatten am Krieg und an der Vernichtung mehr Anteil, als wir uns hatten eingestehen wollen obwohl wir es hätten wissen können: publiziert war es schon längst. Aber diesem »Produktionsprozess von Erkenntnis« – Harry Pross – hat sich der grösste Teil der Schweizerinnen und Schweizer entzogen, obwohl die Medien die Mittel zur Verfügung gestellt hatten .. Das Selbstbewusstsein der isolierten Kleinstaatler nährte sich vom Mythos der geistigen und militärischen Landesverteidigung, vom Glauben an das Heldentum in der Umzingelung durch einen übermächtigen Gegner, wobei dieses Heldentum nebenbei noch den bequemen Vorteil genoss, sich nicht wirklich im Krieg bewähren zu müssen.
Und – so die These des jüngeren Schweizer Historikers Ulrich Jost -: und umso leichter liess sich damals das Doppelspiel der Obrigkeit verbergen, die in der Zeit des ungeprüften Heldentums die staatliche Unversehrtheit der Schweiz durch profitable Kollaboration mit Nazideutschland organisierte. Im Krieg bot die Zensur den heimlichen Transaktionen Schutz vor Veröffentlichung, und im nahtlos anschliessenden »Kalten Frieden« (Pross) liess sich die Wirkung kritischer, öffentlicher Wahrheitssuche mit der Auslösung des antikommunistischen Reflexes vergleichsweise leicht stilllegen.
Die Schweiz blieb wie zuvor offiziell neutral und integrierte sich amerikanischer oft als die Amerikaner – geistig und politisch ins westliche Lager. Umso stärker schreckte uns 50 Jahre später das unverhohlene Ansinnen unserer ideologischen Bündnisgenossen, Briten und Amerikaner, auf, auch in der Schweiz endlich den Teppich aufzurollen, unter den der unerfreuliche Teil der Wahrheit gekehrt worden war: die Schliessung der Augen und Grenzen vor den Flüchtlingen, die Lieferung kriegswichtiger Materialien an die Achsenmächte und die Devisenbeschaffung für Nazideutschland durch Tausch gegen Gold und Raubgold. Die Schweiz, schon gar die offizielle Schweiz, stellte sich dieser Wirklichkeit auch jetzt nicht aus eigenem Antrieb sondern unter dem Druck der Vormacht der Alliierten, 50 Jahre nach dem Krieg, 30 Jahre nach dem 68er »Generationenkonflikt« in der Bundesrepublik, – die Verspätung der Gedanken machte aus dem geflügelten Wort des Michail Sergejewitsch Gorbatschow eine schockierende Lebenserfahrung: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Mein Land hat also etwa dreissig Jahre Rückstand auf lhr Land. Aber sonst, scheint mir, verbindet uns – Schweizer und Deutsche, Deutsche und Schweizer – mehr als uns vielleicht lieb ist.
Dabei geht es nicht nur um Vergangenheit. Wer Harry Pross‘ »Memoiren eines Inländers« mit wachem Geist liest, kann nicht darüber hinwegsehen: Es geht bei der wohlverstanden engagierten Geschichtsbetrachtung um Gegenwart und Zukunft.
Die sogenannte »Holocaust-Debatte« ist nicht gut gelaufen in der Schweiz: Anklage und Verteidigung, Beschuldigung und schliesslich Ablasszahlung durch die Banken endeten bislang in der kaum noch klammheimlichen Freude nicht nur der rechtspopulistischen Presse über die Abwahl des New Yorker Senators d‘ Amato, und darüber hinaus vor allem in aufgeladener Polarisierung und einem »wieder vermehrt salonfähig gewordenen Antisemitismus« wie die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus dieser Tage feststellte.
Der junge Judaistik-Professor Alfred Bodenheimer, ein Neffe lhres guten Freundes Aaron, hat vor einem Jahr schon in einem Fernsehgespräch diese Sicht mit mir geteilt. Er hat die Befürchtung geäussert, die Generation der Väter und der Söhne sei für die Wahrheit noch gar nicht bereit. Denn um Wahrheit ginge es, nicht um Schuld und Bestrafung, und das ist wohl so zu verstehen, dass man keinen Menschen in die Scham treiben darf, weil das nur einen neuen Ausbruch provoziert, neues Unheil, neue Gewalt (eine Warnung des Zürcher Professors und Psychiaters Berthold Rothschild
in einem anderen Fernsehgespräch). Aber um das Erinnern und um Wahrheit geht es schon, weil nur der Schritt zur Wahrheit den Weg zur Veränderung öffnet. Wie wenig das in meinem Land bisher gelungen ist, zeigt die Tatsache, dass die damals geübte Geldwäscherei noch heute ihre routinierte Fortsetzung findet für Mafiosi und Potentaten aus aller Welt, und dass im Angesicht der Flüchtlinge aus Bosnien und Kosovo schon wieder ungefragt und unkommentiert im öffentlichen Medium Fernsehen gesagt werden kann: »Das Boot ist voll«.
Ein präzisierender Nachtrag: Das Gespräch mit Alfred Bodenheimer über die Schweizer »Holocaust-Debatte« habe ich am Vorabend von Jom Kippur geführt, des jüdischen Neujahrsfestes, das soviel mit Erkennen und Bekennen zu tun hat – und mit Verständigung, vielleicht sogar Versöhnung.
Lieber Harry Pross, es soll eine Laudatio werden, zu der ich hier aufgerufen bin. Es gibt Kenntnisreichere, auch hier in diesem Saal, und Weltgewandtere, die Ihren Lebensweg, Ihr wissenschaftliches und publizistisches Werk nachzeichnen und würdigen könnten (und das auch schon getan haben) Und doch habe ich ohne zu zögern und mit Freude die Gelegenheit ergriffen, Omen hier diese Rede zu halten. Gelegenheit nachzudenken über den Grund der
unausgesprochenen Übereinstimmung zwischen dem Meister und seinem Schüler (ich habe da ein paar Vermutungen). Und nicht ohne Genuss ein wenig zu polemisieren, nach Ihrem eigenen Motto: »Die Polemik, der Widerspruch ist der Vater aller Dinge.« (Darüber wird später noch einmal zu reden sein).
Wieder einmal den Blick über den engen Horizont der Berge zu werfen, wie vor mittlerweile ziemlich genau 30 Jahren, als wir uns das erste Mal begegnet sind, der noch neue Student der Publizistik an der Freien Universität Berlin und der neubestallte Professor Harry Pross. Ich habe mich auch auf diese heutige Begegnung wieder sehr gefreut, wenn auch Ihr Rilke mir nicht mehr aus dem Kopf will – in jeder Begegnung ist der Abschied schon vorgezeichnet – aber »sei allem Abschied voran« heisst es ja – vielleicht ist das der tiefe Kern der menschlichen Freiheit, um die es uns geht.
Berlin 1968: Sie hatten keinen freundlichen Empfang. »Pross-titution« war der Beitrag in »Linkeck« überschrieben, der die studentische Wahrnehmung ihres ersten Auftritts wiedergibt. Guter Geschmack stand damals nicht zuoberst auf der Tagesordnung, und da der überlieferte Benimm in mancherlei Hinsicht tatsächlich zur autoritätserhaltenden Etikette verkommen war, erschien uns schon der Gebrauch der proletenhaften Sprache als revolutionärer Akt.
Heute ist die Generation der damals »revolutionären« Linken auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen gerade eben an den SchaltsteIlen der politischen Macht angekommen, und wer sich mit der Pross‘ sehen Arbeit über die Bedeutung von Zeichen und Symbolen auch nur ein wenig befasst hat, wird mit wachem Interesse und leicht gekräuselten Lippen feststellen, wie die damaligen Kritiker des politisch-ideologischen Überbaus und späteren Turnschuhpolitiker sich in Dreiteiler aus edlem Stoffe kleiden und sich schon in ihren ersten Äusserungen der etablierten Leerformeln der internationalen Politikersprache bedienen.
Letzteres ist schon weniger amüsant, wenn man mit Pross bedenkt, dass »Sprache (und Bild) dem Zusammenleben der Menschen seine Verfassung geben«‘. Vor allem aber: Mit welchen Signalen wollen die frischen Amtsinhaber das Vertrauen ihrer Wähler auf eine neuen Politik stärken ? Bräuchte es da nicht etwas mehr Courage zu neuer Zeichensetzung? Die Kritik der Gegner ist ihnen ja sowieso gewiss.
Die Aufsteiger bemühen sich zunächst vor allem um Respektabilität, nun, da sie auf dem Gipfel angekommen sind. So stellt es sich zumindest dar aus der Aussensicht des Berglers: Anpassung an den tradierten Herrschaftsstil statt Prägung eines neuen Stils.
Das heisst nicht, dass sie nichts verändern wollen wir sollen in Nuancen denken, hat der Meister immer wieder gefordert -, aber wenn Form mit Inhalt etwas zu tun hat, so fragt sich doch, ob es auf diese Weise gelingen kann. Die ,,neue Mitte« erweckt den Eindruck, dass sie auf dem Weg zur Macht nicht nur den alten Radikalismus verloren hat sondern auch den weitreichenden und tiefgreifenden Entwurf der Zukunft.
Der »Scheissliberale« hingegen, wie Harry Pross von »Linkeck« gleich zur Begrüssung etikettiert wurde, blieb sein Leben lang ein radikaler Kritiker illegitimer, unkontrollierter Macht Dem »Mensch im Mediennetz«, das ich als eine Summe seiner Arbeit gelesen habe, setzt er ein Zitat von Etienne de la Boetie voran »Für dieses Mal will ich nur Weitersuchen, ob es möglich sei und wie es sein könne, dass so viele Menschen, so viele Dörfer, so viele Städte, so viele Nationen sich manches Mal einen einzigen Tyrannen gefallen lassen, der weiter keine Gewalt hat, als die, welche man ihm gibt; der nur soviel Macht hat, ihnen zu schaden, wie sie aushalten wollen; der ihnen gar kein Übel antun könnte, wenn sie es nicht lieber dulden als sich ihm widersetzen möchten.«
Das ist eine Kernfrage nicht nur aber ganz besonders dieses Jahrhunderts. Harry Pross hat Diktatur und Krieg in den lebensentscheidenden Jahren rund um die Zwanzig erlebt, und während
andere im Rückblick ihre Kriegserlebnisse zu romantisieren begannen, hat er daraus eine Erfahrung geformt, die sich – so scheint mir – durch sein ganzes Wirken zieht. Als Student schon und später, aus seinem inländischen Exil im Allgäu, aus dem er immer wieder aufgebrochen ist zur Wahrnehmung von Aufgaben und Verantwortung, hat er sich eingemischt für die Verbesserung der Beziehungen und die Öffnung der Lebensräume, im Inland und in den Beziehungen zum Ausland (in seinen »Europäischen Wochen« als Chefredakteur bei Radio Bremen beispielsweise). Er hat in der ihm eigenen zähen Beharrlichkeit die uns zustehenden Freiheiten verteidigt, gegen die politisch-ideologischen Machtansprüche der kleinen und grösseren Despoten in Politik und Gesellschaft. Als er :fur das Ordinariat nach Berlin kam, hatte er in Bremen das Redaktionsstatut schon etabliert, das die Publizistikstudenten als grosse revolutionäre Forderung erst einzufordern begannen. (Hans Abich, damals als Programmdirektor mit Harry Pross bei Radio Bremen, hat mir erzählt, Pross habe schon kurz nach seinem Amtsantritt in Bremen bei einer Pressekonferenz die alten Strukturen in Frage gestellt und Mitbestimmungskonzepte skizziert. Er, Abich, habe sich danach im Stillen gedacht: „Wenn der schon so aufmüpfig daherkommt, kann ich ja ruhig etwas autoritärer werden.« – Ein kontraproduktives Ergebnis hätten wir das damals genannt).
Sicherung der Freiheiten – auch gegenüber den totalitären Neigungen der sogenannt linken Studenten, die sich zügig »den intellektuellen Schematismen ihrer Fraktionen und Parteien unterwarfen und sich« – so Pross – »in die Heteronomie der Apparate hineintreiben liessen.« Dieser Fremdbestimmung wollten sie folgerichtig auch am Institut für Publizistik die wissenschaftliche Arbeit unterwerfen, die von der Freiheit des einzelnen und seines Denkens
wesentlich lebt. Für diese Freiheit hat Pross in mühsamer alltäglicher Arbeit die Stellung gehalten und gleichzeitig ein Beispiel gegeben jener Gewaltfreiheit, die sich einige von uns in den Seminaren der Politologie historisch und theoretisch anzueignen versuchten.
Er hatte dafür seine eigene Form Geduld, unsägliche Geduld – wie Raum geben: Wenn er, beispielsweise, bei der lnstitutsbesetzung das Haus verliess und den Besetzem die Schlüssel übergab mit der Bemerkung: »Schliessen Sie bitte ab, wenn Sie nach Hause gehen.« – Schäden an Leib und Gut sind nicht entstanden, und der Erfolg gab ihm Recht, auf lange Frist wer Raum gibt, wird auch gesucht. – Nicht ohne Grund sind seine Schüler und Freunde aus aller Welt heute hierher gereist: Er hat mit seinem gelebten Humanismus seinen Wirkungskreis auf die nächste Generation ausgedehnt,
die jetzt bereits auf den Lehrstühlen und Redaktionssesseln sitzt und die sein Erbe des sozialen und freiheitlichen Denkens und des systematischen Zweifels vielleicht, hoffentlich, an die Enkel weiterzugeben vermag.
Pross hat, indem er sich (am Institut und anderswo) der Auseinandersetzung entzogen hat für eine Weile, eine Form der Konfliktlösung praktiziert, die der eingangs schon zitierte Berthold Rothschild – gerade für solche Spannungslagen – als gültige und zu Unrecht verachtete Form des Gewaltabbaus propagiert: Spannungsauflösung statt Konfrontation. Harry Pross ist ja immer wieder weggegangen in seinem Leben. Sicher nicht immer schmerzfrei, aber dieser Abschied ermöglicht beides: Treue gegenüber der eigenen Überzeugung und Freiheit für Neues. Dieser Weggang ist ja nicht Verweigerung von Kommunikation, er ist, reiflich überlegt und mit kühlem Kopf vollzogen, vielmehr ein Schritt zur Herstellung einer anderen, einer kommunikationstauglichen Situation. Aber das braucht einen langen Atem, in der Politik wie im Privaten.
Und ein waches Bewusstsein für die Situation. Der Krieg ist auch in Europa noch nicht zu Ende. Der grosse Konflikt der beiden Lager, die eingezwängt waren in die Zwangs- und Abschreckungsmittel der atomaren Drohung, der Mauer und des Eisernen Vorhangs, hat
für begrenzte Zeit die kleinen Konflikte stillgelegt, welche die frühere Fixierung der Herrschaftsgebiete in ideologische Lager teils verfestigt, teils erst geschaffen hat. Jetzt sind die regionalen, ethnischen, religiösen Gegensätze wieder aufgebrochen, und es zeigt sich, dass wir nicht nur im Machtgebiet der ehemaligen Sowjetunion sondern auch im Gefüge der Europäischen Union alten historischen Bindungen noch immer verhaftet sind. Betrachtet Russland das ehemalige Jugoslawien noch als Teil seiner Klientel, so pflegt seinerseits Frankreich weiterhin die hergebrachten Sympathien zu Serbien. – Die alten ethnisch-religiösen Gegensätze finden im übrigen neue Nahrung in der Internationalisierung von Wirtschaft und Politik. Wenn politische Macht und wirtschaftliche Verfügungsgewalt sich in Konzernzentralen und Polit-Administrationen fernab der je eigenen Lebensbereiche konzentrieren, wächst die Neigung, sich auf die eigene Ethnizität zurückzuziehen. Roouitdenken nennt man das bei uns im Gebirge, schnell verbunden nicht nur mit Abwehr sondern sogar mit Feindseligkeit gegen alles, was fremd ist oder fremd scheint.
All das macht friedenssichernde oder Frieden erzwingende Massnahmen nicht einfacher, die bei allen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten in der Durchführung doch einen historischen Fortschritt darstellen: Sie setzen die Menschenrechte höher als das über
lange Zeit sakrosankte Prinzip der nationalen Souveränität und Nichteinmischung.
In Wirklichkeit sind die Menschenrechte nicht nur in den definierten Kriegs- und Krisenregionen täglich gefährdet. Die Überwindung der weltpolitischen Blockgegensätze hat nicht nur für einige Jahrzehnte die Gefahr der direkten Konfrontation zweier Supermächte aus der Welt geschafft, mit dem scheinbar endgültigen Triumph der kapitalistischen Marktwirtschaft werden auch die Wertsysteme untergraben. – Ich wünsche mir diese Gegensätze selbstverständlich genauso wenig zurück wie Sie alle. Aber der weltpolitisch ideologische Gegensatz hat nicht nur zum Lagerdenken und zur Ausgrenzung geführt (nach dem Motto: »Dann geh doch rüber«, ins so nicht mehr existierende Ost-Berlin zum Beispiel), sondern er hat auch umfassende Gestaltungsvorstellungen für die je eigene gesellschaftliche Formation verlangt, zumindest als Legitimation.
Das ist heute nicht mehr so. Der Kapitalismus begründet sich aus seiner blossen Existenz, gemäss der normativen Kraft des Faktischen, und er muss den »Beleidigten und Ausgebeuteten« seine Überlegenheit gegenüber einer gesellschaftlichen Alternative nicht mehr durch sozialen Ausgleich ausweisen, weil sie ja durch seinen Sieg schon endgültig bewiesen scheint.
Und auch die Aufforderung »geh doch rüber« entfällt, weil, wer nicht mitmachen will oder mitmachen kann, herausgeschleudert wird, in die unwirtlichen Innenstädte, die Slums, die Favelas.
Die Architektur des Systems wird in den Bauten seiner Mächtigen manifest: Die Schweizer »Sonntags-Zeitung« hat jüngst in einer Fotodokumentation gezeigt, wie Schweizer Top-Manager wohnen. Die Sicherheitseinrichtungen um ihre Villen in bevorzugter Lage unterscheiden sich nur graduell von den ummauerten und mit Waffen gesicherten Vierteln der Reichen und Superreichen in lateinamerikanischen Grossstädten. – Die Lagergrenzen zwischen Ost und West, Sozialismus und Kapitalismus, die wir 1989 überwunden haben, werden neu errichtet im Inneren unserer Gesellschaften, als Mauer zwischen den Burgen der Reichen und den sich ausdehnenden Quartieren der Armen. – Das ist tägliche Verletzung von Menschenrechten, tägliche Gewalt.
Dies als Folge von »Globalisierung« zu bezeichnen, ist fast schon wieder Mythenbildung. Globalisierung gab es schon vor Fuggers Zeiten, zu den Ländern, wo der Pfeffer wächst, pflegen wir unsere Beziehungen seit Jahrhunderten, und unsere kulturelle Erbschaft aus Nordafrika, Mesopotamien und China ist auch nicht neuesten Datums. Neu ist die unkontrollierte Weltmacht multinationaler Konzerne und vor allem:
die weltweite Dominanz der Finanzmärkte (unterstützt von der revolutionären Entwicklung der Kommunikationstechnologie), die wohl jedes staatliche politische System auszuhebeln vermag. Der französische Diplomat und Politikwissenschafter Jean-Marie Guehenno hat diese Entwicklung schon Anfang der 90er-Jahre unter dem Titel »Das Ende der Demokratie« signalisiert. Der Staat wird zum blossen, knapp gehaltenen Dienstleistungszentrum, dessen Kenntnisse durch einen optimalen Informationsfluss der privaten Nutzung zugänglich gemacht werden müssen.
Was bislang in unserer Kultur als »Korruption« gilt, wird damit zum überlebten Begriff: Der Beamte, der sich der privaten Entlöhnung zugänglich zeigt, trägt in diesem System »wie seine Japanischen Kollegen, die das sogenannte amakaduri praktizieren, seinen Teil dazu bei, dass im gesellschaftlichen Miteinander die Dinge ins Rollen kommen« (in Zürich sind mit diesem Verfahren die attraktivsten Stätten der Gastronomie errichtet worden), und mit der daraus folgenden Abschaffung des Staates – Marx, Kropotkin & Co. lassen grüssen -, finden wir endlich zum »Triumph der einzigen uns noch verbleibenden Universalität: des Geldes.« Wir sind, scheint mir, von diesem Zustand gar nicht mehr so schrecklich weit entfernt. Der Kapitalismus ist auf dem besten Weg, seine reine Erscheinungsform hervorzubringen:
Was erzeugt wird, ist unerheblich, primär ist die Wertvermehrung in Form von Geld – Banken und Börsen bestimmen über die Existenz von Unternehmen und ganzer Volkswirtschaften, nicht Bedarf und Bedürfnis der Verbraucher.
Ist einmal dieses System im Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft sogar mit Zustimmung der kommunistischen Partei der Volksrepublik China ( erfolgreich auf dem ganzen Globus eingeführt, so haben wir die beste aller möglichen Welten. Und die Aufgabe der Politik vereinfacht sich radikal, da eine Alternative nicht mehr besteht Das Wertsystem ist durch die Regeln der kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich definiert – »die Marktwirtschaft ist nicht mehr bürgerlich«, schreibt »Die Zeit« -, die politischen Programme werden nach dem Prinzip der wechselnden Mehrheiten – wie die Kundensegmente der Privatwirtschaft – auf den kurzfristigen Wahlgewinn zugeschnitten, und der Wahlkampf wird folgerichtig zur Werbekampagne. Die Politik, die ihre Steuerungskapazität schon weitgehend an die Ökonomie verloren hat, gibt damit das letzte Feld der Macht auf, das ihr noch bleiben könnte: Die Gestaltungsmacht der Ideen, der Visionen, der Sprache, des Wortes.
Das wäre es nun Sache der Medien, den »Produktionsprozess von Erkenntnis durch Mitteilung« in Gang zu setzen,
und – die entscheidende publizistische Aufgabe im Sinne von Harry Pross – Fragen zu stellen.
Die Frage nach dem Gehalt dessen, was als Globalisierung mit ihren angeblich unvermeidlichen Folgen propagiert wird. Die Frage nach den Interessen. Die Frage nach der Freiheit, die sie meinen. Die Frage nach den Rechten und Interessen der Menschen in diesem globalen System.
Das ist die Aufgabe, verehrter Professor Pross, die Sie uns vermittelt haben, und an der wir beharrlich festzuhalten gedenken. Deshalb ist diese Rede auch nicht pessimistisch zu verstehen, sondern als Beitrag zu der Polemik, die wir führen müssen, um immer wieder ein Stück mehr Klarheit zu gewinnen über unsere Stellung in der Welt. Als Sie den Satz geschrieben haben, es sei die »Polemik der Vater aller Dinge«, haben Sie – da bin ich mir sicher – versonnen gelächelt über die Nuance, die sie gesetzt haben. Denn gemeinhin gilt der polemos, der Krieg, als der Vater aller Dinge, und genau dagegen polemisieren wir ja – gegen all die ungerechten, inhumanen, in der Kommunikation gestörten Verhältnisse, die immer wieder Ursache sind zu friedlosen Umtrieben.
Dass es nicht einfacher geworden ist, wissen Sie. Auf allen Ebenen In der Binnenwirtschaft der Medienhäuser hat sich die Mentalität der Warenproduktion
so sehr durchgesetzt, dass sich die Erinnerung an andere Möglichkeiten fast verliert.
Allein der Gedanke, es könnte anderes angeboten werden als das leicht Konsumierbare, das die Flucht aus dem Alltag einer komplexen Welt fördert, allein der Gedanke, es könnte mithilfe des Fernsehens Bewusstsein gebildet werden, wirkt in solcher Umgebung schon fast obszön.
In der Weltwirtschaft der Medienindustrie, die die Rahmenbedingungen schafft, setzt sich die Gewalt des ungezügelten Marktes vollends durch. Die Medienunternehmer, schreiben Sie im »Mediennetz«, bilden inzwischen »eine globale Oberschicht, in ihrem ökonomischen und politischen Gewicht durchaus den Stahl- und Betonbaronen der Kohlen-Eisenepoche vergleichbar, nur viel gefährlicher, weil sie nicht Kanonen, sondern den Mythos des 21. Jahrhunderts herstellen.« Der Mythos heisst »Weltmarkt«, »Globalisierung«, »die Welt ein Dorf‘, »weltweite Kommunikation auf dem ‚worldwide web«‘. Mittlerweile wächst da und dort die Einsicht, dass dies mit Kommunikation noch immer wenig zu tun hat. Aber, ich zitiere:
«Die Erhebung der Signalökonomie zum Weltsymbol und damit der Aufstieg der Multimediaunternehmer zur auserwählten Klasse stösst auf geringen Widerstand,
weil aller Welt die ökonomischen Vorteile, in kürzerer Zeit über weitere Strecken mehr Menschen zu erreichen, einleuchten.« Ausserdem, fügen Sie hinzu,
– und dies scheint mir kommunikations-politisch zentral ausserdem verfügt keine andere Industrie über die Möglichkeit, so nahe an die Menschen heranzukommen, wie die Medienindustrie mit ihrem direkten Zugriff auf den Snmes- und Wahrnehmungsapparat. Und dies, wie Paul Virilio vermerkt: dies in einer Geschwindigkeit, die Entscheidungen in kürzester Zeit erzwingt und Reflexion damit weitgehend ausschliesst. Die verfügbare Technologie erlaubt eine Beschleunigung, die schon fast den Verlust von Raum und Zeit herbeiführt – bislang Grundbedingungen vernünftiger menschlicher Existenz.
Nun sind wir aber, und damit komme ich zum Schluss, nun sind wir aber Dialektiker, die um die Widersprüche wissen. Also auch um das freiheitliche Potential der verfügbaren Technologien. Die Reisenden mit den kleinen Kameras sind von den Kontrolleuren der heutigen Despoten und Diktatoren nicht mehr so einfach< als Reporter und Journalisten zu identifizieren - das wurde und das wird genutzt grade von jenen, die nicht der Oberflächeninformation des schnellen
News Gathering verpflichtet sind. Und das Internet wurde von den Pentagon-Profis als komplexes System relativ autonomer Subsysteme mit derart mephistophelischer Perfektion konzipiert, dass sich seine Unkontrollierbarkeit durch Machtapparate bis heute bewährt. Die Utopie der freien Mitteilung wird immer wieder einen Ort finden.
Lieber Professor Pross, im weltweit ausgedehnten, globalisierten Mediennetz sind – ein Paradoxon die Kommunikations-Spielräume für die beruflichen Kommunikatoren enger geworden. Aber ich habe von einem gehört, der hat unter Kanonen und im Lazarett Bücher gelesen, und zwischen den Ruinen, kaum war der Krieg zu Ende, mit dem Aufbau neuer Kommunikation begonnen. Mit den Besatzern, mit den Feinden von jenseits des Vorhangs und der Mauer, und selbstverständlich im Inland, mit den In- und Ausländern gleichermassen. Sie haben den schönen Satz: »Der Mensch entsteht durch Kommunikation« nicht nur geschrieben, Sie haben ihn gelebt.
In Ihren Publikationen und in der Zeit als Lehrer an der Freien Universität Berlin haben Sie uns auf die Fragen aufmerksam gemacht, die einen Publizisten leiten sollten. Die Frage
Dabei haben Sie eigene Antworten gehabt und andere Antworten zugelassen den Zweifel sowieso -, Sie haben Angebote gemacht, aber nie oktroyiert. Das Ziel – die Freiheit des Einzelnen, zu denken, zu handeln und sich zu entwickeln in eigener, reflektierter Verantwortung -, war bei Ihnen, beim Universitäts-Professor Dr. Harry Pross Theorie und Praxis zugleich.
Das wird bleiben.
Ich danke Ihnen.