Der große Gelehrte, der am 2. Mai in Heidelberg verschied, war ein Altersgefährte von Gerhart Hauptmann, von Lenin, Wilson und Stefan George 1868, dem Jahr seiner Geburt, erschien Haeckels Schöpfungsgeschichte, und Alfred Weber war schon zwanzig Jahre alt, als Friedrich Engels den zweiten Teil von Marxens Kapital herausgab. Dreißig Jahre zählte er, als Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« erschienen. Ein Jahr früher hatte der junge Jurist seine erste größere Arbeit veröffentlicht. Sie behandelte die Hausindustrielle Gesetzgebung und das Sweating-System in der Konfektionsindustrie. Ihr folgten einundsechzig weitere Jahre wissenschaftlicher Forschung und akademischer Lehrtätigkeit.
Sechs Jahrzehnte, welch ein Zeitraum! Mehr als die durchschnittliche Lebenserwartung eines heute Geborenen beträgt, das Doppelte an Jahren, was die Altersgefährten Webers zur Zeit ihrer Geburt zu erwarten hatten. In seine neunzig Jahre fällt der Sieg des technischen Wissens in der ganzen Welt, in seine neunzig Jahre fällt aber auch der unbeschreibliche Niedergang Deutschlands; sie umfassen den Verlust der Humanität und das was Alfred Weber selber die »Rebarbarisierung« genannt hat. Der erste der zweite Weltkrieg, das Hitlertum und das russische Vordringen in die Mitte
Europas. Was empfindet ein Mann, der dies alles bewusst und tätig erlebt hat?
Wer Alfred Weber in den letzten Jahren begegnen durfte und den Vorzug hatte, in den Kreis seiner Schüler einbezogen zu sein, hat zu berichten, dass der titanische Mann sein Werk und das seiner Generation mit Strenge kritisierte. Er glaubte, dass in Deutschland der Ältere den Jüngeren nur von Versagen, nicht von Erfolgen sprechen dürfe.
Im Mai 1955 schrieb er: »In jedem anderen Lande kann der Ältere, indem er zu Jüngeren spricht, auf sein eigenes Beispiel verweisen. Er mag dies oder jenes verkehrt gemacht haben. Er kann im Ganzen doch sagen, er hat den Jüngeren eine gemeinsame Lebensbasis geschaffen oder gerettet. Der Deutsche der älteren Generation gehört geschichtlich gesehen zu den Versagern. Unter den Händen seiner Generation oder einer ganzen Generationsreihe, der er angehört, ist das Dasein des eigenen Volkes zerbrochen, zerbrochen mit einer Zwischenzeit vorher nie dagewesener Exzesse. Er mag in dem Gefühl, selber auf einer anständigen Linie verblieben zu sein, versuchen, noch so viel von dem Vorgegangenen auf den Miteinfluß übermächtiger äusserer Umstände zu schieben. An seiner Mitverantwortung kann er nicht vorbei, wenn er leben geblieben ist,
und wenn er nicht emigriert ist oder war … Es ist in der Tat eine einzigartige und besondere Lage, in der man heute als Älterer zu jüngeren Deutschen spricht in einem zerklüfteten Etwas, ohne begründetes eigenes Prestige und im Bewusstsein der kaum zu übertreibenden Schwierigkeiten der Lage aller Jüngeren.«
Diese Worte, ohne Bitterkeit und fern von jeder Resignation aufgeschrieben, eröffnen wie wenig andere den Zugang zum Leben und Werk Alfred Webers. Sie erhellen das Geheimnis seiner Anziehungskraft. Sie zeigen, warum wir in ihm einen erhabenen Charakter verehren und einen Mitleidenden in ihm bewundern. Wo sonst finden wir in einer Person zwei scheinbar getrennte Betrachtungsweisen widerspruchslos miteinander vereinigt, wie bei ihm die historische und diejenige der eigenen anständigen Linie, die es zu verfolgen gilt, auch wenn die historische Mittäterschaft fraglich wird? Schon seiner Mutter, deren praktische Weltfrömmigkeit er rühmte, sagte Alfred Weber »Heftigkeit und Unabbringbarkeit« nach, Charakterzüge, die sein langes Leben bestimmt haben. »Geh Deinen Weg und lass die Leute reden!« hat er selber als einen Grundsatz bezeichnet, der ihm zwar Nachteile eingebracht, aber keine inneren Kämpfe gekostet habe. Und wirklich weisen Arbeit und Dasein dieses oft genug jähen Mannes keine Brüche und keine Volten auf.
Seine Produktion war eruptiv. Der Satzbau in seinen prinzipiellen Büchern, mit denen er zuerst eine weltberühmte ökonomische Theorie aufstellte, dann eine unüberspringbare Geschichtssoziologie hervorbrachte und schließlich den Weg zur Überwindung des Nihilismus wies, der Bau dieser Bücher verrät, dass sie ihr Dasein intellektuellen Vulkanausbrüchen verdanken. Wie er selber seiner Umgebung stets als ein Koloss von einem Mann erschien, in dem der Geist brodelte und nach neuen Auswegen suchte. Doch war auch etwas anderes stets spürbar. Die gerade Linie nämlich, auf der dieses Leben sich bewegte, und ihre blendende Klarheit. Was diese lineare Grundbefindlichkeit für das Werk bedeutet, kann nicht unterschätzt werden.
Von den auswärtigen Studiensemestern abgesehen, lebte der junge Weber, dessen älterer Bruder Max früh zu wissenschaftlichem Ruf gelangt war, bis 1903 im Berliner Elternhaus. Der Vater, ein nationalliberaler Abgeordneter, stand im Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzungen über Bismarck.
In seinem Haus fand die entscheidende Unterredung zwischen Rickert und Bennigsen statt, an der sich die Wege der Nationalliberalen trennten. Mit Gladstone war der junge Weber der Ansicht, dass Bismarck Deutschland größer,
die Deutschen jedoch kleiner gemacht habe. Er bewunderte die Reichspolitik des Kanzlers und misstraute dem autoritären Kurs seiner Innenpolitik. Zu diesem Urteil war er durch seine volkswirtschaftlichen Studien befähigt. Ähnlich wie Max Weber seine ersten Untersuchungen über die ostelbische Landarbeiterschaft zugleich wissenschaftlich und politisch verstand, betrachtete Alfred Weber seine Analysen der Heimarbeit in der Konfektionsindustrie im größeren sozialen Zusammenhang. Er sah mit den Augen des Wissenschaftlers dasselbe WebereIend, das Hauptmann als Dichter angeklagt hat. Er sah aber zugleich die soziologischen Verschiebungen, deren Folge das Elend war, und schloss daraus, dass der Liberalismus irre, wenn er hoffte, die Zustände würden sich von selber bessern, lasse man nur der Wirtschaft ihren Lauf. Gegen das unbeschränkte laisser-faire waren seit 1872 schon die im Verein für Sozialpolitik versammelten Professoren aufgetreten. Sie wollten »einen immer größeren Teil unseres Volkes zur Teilnahme an allen höheren Gütern der Kultur, an Bildung und Wohlstand« bringen. »Das soll«, so sagte Gustav Schmoller bei der Gründung, »und muss die große im besten Sinne des Wortes demokratische Aufgabe unserer Entwicklung sein. Dieser Tendenz folgte Alfred Weber in seinen frühen Arbeiten.
Er sieht, dass die rapide Bevölkerungszunahme Deutschlands auf den Export verweist, und dass dieser Export den Wert der Arbeitskraft mit entgelten muss. Das macht ihn zum Gegner der damalige: Schutzmaßnahmen für die Schwerindustrie und der Versuche, zum Agrarstaat zurückzukehren.
Unter diesem Gesichtspunkt eines deutschen Verarbeitungslandes, das Frieden braucht, erscheint ihm die Flottenpolitik als der gefährliche Unfug, der sie auch war. Er schüttelte, wie er schrieb, 1903 den »ungeliebten Staub des wilhelminischen Berlin« von den Füßen und folgt einem Ruf nach Prag. In der goldenen Stadt beeindruckt ihn besonders der Umgang mit Thomas Masaryk, der mit ihm seine Pläne für die Neuordnung Österreichs bespricht. Sie werden durch die unglückselige Annexion Bosniens, die erst die Slawen zu unerbittlichen Feinden der Doppelmonarchie macht, illusorisch. Als dies geschieht, lehrt Alfred Weber mit großem Erfolg in Heidelberg. Für dieses Heidelberg von 1907 gilt, was Pasternak über das gleichzeitige Marburg gesagt hat, es war erhellt durch Skepsis.
»Jener Geist Heidelbergs , wie ihn vor allem immer wieder Friedrich Gundolf zu bezeichnen pflegte, war für den, der als neu Hinzugekommener an ihm teilnahm, etwas wie eine Offenbarung. Er zog die Geschichte,
er zog die philosophische Existenz, er zog alle alte Tradition vor seinen Richterstuhl.« Webers Satz vom »Richterstuhl« verweist auf die Ursprünge dieser glücklichen Verfassung von Stadt und Universität: Immanuel Kants Erbe wurde neubelebt, es war sein »Richterstuhl der Vernunft«, vor den die Geister traten. Anders aber als Kant ließ dieses Heidelberg die Politik ausser acht, und um George machte sich, wie Weber ihn nannte, der »Snobismus der auserwählten Schar« breit, dem vorwärts zu treibenden demokratischen Zug der Zeit diametral entgegengesetzt.
Erscheinungen wie diese waren isoliert so wenig zu begreifen, wie die Zustände in der Konfektionsindustrie zehn Jahre vorher nur ökonomisch zu erklären waren. Weber versuchte, sie zu erfassen, indem er sich den Begriff des Kulturtypus schuf. Der Theorie »über den Standort der Industrien« von 1909 folgen Arbeiten über Religion und Kultur, über den Beamten und zur Judenfrage. Sie markierenden Anfang der Kultursoziologie.
In der Kultursoziologie wagt Weber einen systematischen Vorstoß, der Aufklärung darüber verschaffen soll, wo die Gegenwart im Ablauf der Geschichte ihren Platz hat. Dieselbe Frage haben vor ihm die Kulturphilosophen gestellt, gleichzeitig mit ihm arbeitet Spengler darüber.
Aber Alfred Webers Arbeit ist gleichweit von den Versuchen des 19. Jahrhunderts wie von den Theorien Spenglers und Toybees entfernt. Im Gegensatz zu den früheren Versuchen leugnet Weber die Transzendenz nicht. Im Gegensatz zu den Zyklikern denkt er linear. Er gibt dem liberalen Fortschrittsglauben unrecht sofern dieser das Vorhandensein metaphysischer Kräfte ignoriert, und er wendet sich mit Schärfe gegen die Annahme, dass die Menschheit dazu verurteilt sei, das immer Gleiche neu zu erleben, ohne Aussicht, jemals eine höhere Bewusstseinsstufe zu erklimmen. Die Auseinandersetzung mit den Fehlurteilen mit den populären Kulturkritikern, die in seiner Systematik angelegt ist, erreichte ihren Höhepunkt in Webers Kritik an Nietzsche, die er in der Hitlerzeit schrieb.
Die Beschäftigung mit der Kultursoziologie wurde durch den ersten Weltkrieg unterbrochen. Er ging an die Front und wurde 1916 ins Reichsschatzamt berufen, als dessen Verbindungsmann zur Linken im Reichstag er fingierte.
Die dort gesammelten Erfahrungen in praktischer Politik, die Äusserungen aus jener Zeit, so zur Polenpolitik und gegen die Annexionsziele der Vaterlandspartei plante er nach dem Krieg zu verwenden. Er gehörte zu den Begründern der Demokratischen Partei, die eine bürgerliche repräsentieren sollte,
zog sich aber sehr bald auf seinen Lehrstuhl zurück.Diese Abstinenz hat er mir später als einen groben Fehler bezeichnet.
Die Weimarer Jahre, mit Kriegsheimkehrern wie Haubach, Mierendorff, Zuckmayer als Studenten begonnen, endeten damit, dass Weber die Hakenkreuzfahne vom Dach seines Instituts herunterholen ließ, und um seine Emeritierung einkam. Dazwischen liegen ungezählte Stunden intensiver Lehre und etwa fünf Dutzend soziologisch-politische historische Veröffentlichungen, von denen jede ihr eigenes Gewicht hat. Alle aber verraten ein ungeheures Sensorium für unbeantwortete Fragen, eine schmerzhafte Empfindlichkeit für die nervösen Unterströmungen der Gesellschaft. Aus dieser Sensibilität ist das Bekenntnis zu würdigen, das er angesichts des »Raubtierstaates« im Buche über »Das Tragische die Geschichte« gibt. Dort erscheint die durchlittene tragische Situation als die höchste Möglichkeit des Menschen zu sich selbst zu kommen.
Aber dabei bleibt es nicht. Das Transzendente, das Metalogische liegt in den diesseitigen Einrichtungen. Nicht die wechselnden Institutionen und Ausprägungen entscheiden den Gang der weiteren Geschichte, sondern die universelle Allverbundenheit, die als unverlierbare, unmittelbare jenseitige Macht mit Christentum und Humanität
in die Geschichte gekommen ist.
Sie erfordert freilich aktive Tätigkeit, wenn der Mensch, den sie geprägt hat, gegenüber dem nihilistischen Typus, der als Diener des Apparates in Ost und West existiert, überleben will. Alfred Webers zorniger Protest gegen das Diktat der Atomenergie war ein Appell, sich aus der Sklavenhaltung beziehungslosen Spezialistentums zu erheben, und gegen Gefahr des Funktionärtums die menschenwürdige Kraft des Universellen vorzubringen.