Inmitten der Sozial- und Geisteswissenschaftler, die 1945 ihr Lehramt an der Universität Heidelberg wiederaufnahmen, war der Strafrechtsreformer und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878-1949) der zarteste. Neben dem hageren, steifen Philosophen Jaspers wirkte er klein, dem mächtigen Querschädel des Soziologen Alfred Weber gegenüber schmal. Hans v. Eckardt und Willy Hellpach, der Soziologe vornübergebeugt und immer auf der Suche, der Sozialpsychologe kerzengerade einen Präsidentenbauch vor sich hertragend, schienen derb neben dem zierlichen Radbruch. Auch seine Stimme war mild. Nicht der aggressive Berliner Akzent Webers, nicht das rollende Baltisch v. Eckardts, noch das oldenburgische Singen Jaspers‘ und nicht die hintergründig schlesische Verbindlichkeit Hellpachs vermochen die Studenten zum Hören zu bringen, wie Radbruchs leise Klarheit uns bezwang.
Wenn ich heute von allen Seiten »Glasnost« höre, denke ich an die gläserne Durchsichtigkeit, die der frei dozierende Radbruch seinen Sätzen mitgab.
Nicht einer zerbrach unter der Last seines ungeheuren Stoffes, der »Erneuerung des Rechts nach seiner elendesten Korruption.« Mitzuschreiben war ein Vergnügen, denn die Rede folgte ohne Schnörkel dem linearen Zwang der Schrift. Zwei Konstudenten der rechtsphilosophischen Vorlesung in der Alten Aula 1946, Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg, haben dann auch im heißen Sommer 1947 mit seinen studentischen Hungerdemonstrationen die Erlaubnis erhalten, ihre Mitschrift als Vorschule der Rechtsphilosophie zu veröffentlichen. Als die Aufzeichnung zugänglich wurde, war Radbruchs Parkinson’sche Krankheit weit fortgeschritten. Er schlurfte mühsam in seine Vorlesungen, und im Gespräch konnte er abwesend erscheinen, was ganz ungewöhnlich war bei der Intensität, mit der er sich dem jeweiligen Partner zuwandte.
Diese Offenheit hat der Herausgeber der Gesamtausgabe Gustav Radbruch in 20 Bänden, der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, im ersten der beiden lieferbaren Bände gerühmt. Kaufmann schildert, wie er 1945 ab Studienanfänger den Dekan der wiedereröffneten Juristischen Fakultät in seinem Dienstzimmer aufsuchte, und wie ihn die Milde in dessen Stimme, »die eine männliche Güte verriet«, beeindruckt hat: »Und was mich ganz besonders in Erstaunen versetzte: Bei der Begrüßung und Verabschiedung stand Radbruch auf, um mir die Hand zu geben. Das war nach allem, was ich
von Vorgesetzten erlebt hatte, nicht zu erwarten gewesen. Ich spürte aber und sollte es in den kommenden Jahren erfahren, daß dies nicht bloß eine noble Geste war, sondern einer inneren Haltung entsprach. Ich verließ das Zimmer mit dem klaren Bewußtsein, daß ich diesen Mann hören müsse.«
Ähnlich hat Radbruch auf Hörer vieler Fakultäten gewirkt, auch vor 1933. Seine Vorlesungen waren so wenig »Nur für Juristen«, wie die von Jaspers »Nur für Philosophen«, und die Viktor v. Weizsäckers »Nur für Mediziner« waren. Die Individualitäten der Lehrer und die überindividuellen Einrichtungen der Universität verband, was Radbruch in seiner Theorie den »transpersonalen Werkwert« genannt hat. An ihm waren die Personen und die Institutionen zu messen. Weder die gedankliche Leistung, die der Lehrer dem Schüler abverlangt, noch das »Angebot«, das jener aufgreift, genügen für sich genommen. Ihre Würde, ihren »Geist«, wie man damals sagte, beweisen sie im Werk, das freilich relativ bleibt und, wie das Recht, der Umbildung offen.
Mit seinen Worten: Weil das Recht die Bestrebung hat, Gerechtigkeit im Ganzen und Billigkeit im Einzelfall zu finden, so ist es »eine Notwendigkeit des juristischen Berufes, sich zugleich seiner Hoheit und seiner tiefen Fragwürdigkeit in jedem Augenblick
bewußt zu sein.« So verstand Radbruch auch das Lehramt. Dafür liebten wir ihn, wie die Studenten zwanzig Jahre später die angesammelten Hochnasen haßten. Viele Professoren waren nicht so klug wie Radbruch, um so gütig sein zu können wie er.
Man kann nach den biographischen Schriften wohl sagen, daß die tiefe »Fragwürdigkeit« Radbruch von Jugend an geleitet hat. Noch am 70. Geburtstag gab er ihr heiteren Ausdruck. Als ihm der Heidelberger Oberbürgermeister besondere Ehren in Aussicht stellte, antwortete er lachend: Aber keine Radbruch-Straße. Niemand würde sie befahren wollen. Er selber leitete seinen Namen von rad = roden ab und dem niedersächsischen Ort gleichen Namens.
Der Sohn eines wohlhabenden Lübecker Kaufmanns hätte lieber Literatur als Rechtswissenschaft studiert, eine um 1900 weit verbreitete Tendenz, die neben radikal literarischen Existenzen, wie sie Radbruchs Lübecker Schulfreund Erich Mühsam führte, viele böse Marktschreiber und brave Studienräte hervorbrachte. Die Literatur trat in das Stadium ihrer industriellen Verwertung ein.
Radbruch brachte in der Folge nicht nur bedeutende literarische Essays hervor, die der Band 5 der Gesamtausgabe (Alfred Müller-Seidel) sammeln soll.
Er maß sein Schreiben überhaupt mit schriftstellerischen Maßstäben, überzeugt von der Notwendigkeit literarischer Bildung, weit weg vom Nominalstil der Fachliteratur.
Mit 25 Jahren Privatdozent, veröffentlichte er 1910 in einer populären Reihe, Wissenschaft und Bildung, seine erste Einführung in die Rechtswissenschaft . Sie enthält auch ein Sortiment von Zitaten von Goethe, Schiller, Wackenroder, Novalis, Heine und Hebbel gegen die Juristerei. Zugleich überraschte sie die Zeitgenossen mit ungewohnten Einsichten wie der, daß das Freikirchentum im Interesse der Religion liege, das Recht eine ästhetische Dimension habe, und die Annahme »einer besonderen nationalen Ehre« problematisch sei. Wenn man die weitere Praxis der deutschen Justiz in Betracht zieht, scheint sie nicht viel daraus gelernt, vielleicht auch die Justizkarikaturen Daumiers unterschätzt zu haben, die Radbruch später herausgab.
Es war das neukantianische Heidelberg, in dem junge Gelehrte wie Emil Lask, Georg v. Lukacs und Radbruch sich »dem Rat älterer Kollegen entzogen». Dafür hatten sie nicht wenige russische und andere vor-revolutionäre Studenten um sich. Die Universität glich 1910 einer Drehscheibe für Intellektuelle vordemokratischer Staaten; aber noch machten sich ihre Dozenten verdächtig,
wenn sie sich zur eher biederen deutschen Sozialdemokratie bekannten.
Radbruch betätigte sich sozialpolitisch in der »Fortschrittlichen Volkspartei«, ehe er 1913, beeindruckt vom demonstrativen Begräbnis August Bebels, zur SPD stieß. Damit begann eine Phase parteipolitischen Engagements, die ihn zum Reichstagsabgeordneten und in den Regierungen Wirth und Stresemann zum Reichsjustizminister bestimmte, ihn schließlich zum ersten deutschen Hochschullehrer machte, den die Nazis amtsenthoben. Seine Probleme mit dieser Karriere wird man den Bänden 17, 18, 19 entnehmen können, in denen Professor Spendet die Briefe und Professor Schild die Reichstagsreden sammeln werden.
Aus früheren Publikationen kennt man, und kann es im Band 16 nachlesen, Radbruchs eindeutige Weigerung, sich dogmatisch festzulegen. Seine »Kulturlehre des Sozialismus« (1922) weist weit über jede Parteidoktrin hinaus, wie die »Republikanische Pflichtenlehre« über den Staat. Dem Schüler des Strafrechtslehrers und -kritikers Franz v. Liszt, dem Bewunderer des Kriminalisten Anselm Feuerbach (Bd 6 Adolf Laufs) machte der Widerspruch von Sein und Sollen im Recht zu schaffen: das biblische Problem der immer zu erstrebenden, nie voll zu erreichenden Gerechtigkeit. Den Bürger Radbruch erbitterte die soziale Ungerechtigkeit,
und den philosophischen Kopf bewegte zeitlebens die Unergründbarkeit letzter Widersprüche. Eine fromme Scheu vor werttheoretischen Festlegungen durchzieht seinen Relativismus und zugleich der Mut zur selbstverantwortlichen Entscheidung, wie ihn Lessing im »Nathan« forderte.
Kein Wunder, daß der Professor sich Feinde machte, ein Todesurteil der Kapp-Putschisten auf sich zog und von der Linken für sein Republikschutzgesetz getadelt wurde, das ihr mehr zu schaffen machte als der Rechten, gegen die es nach dem Rathenau-Mord wirksam werden sollte. Radbruch hatte die Demokratie ab ein sich regulierendes System der Toleranz eingeschätzt und sich darin geirrt, wie er später sagte; aber er blieb auch nach dem Selbstmord der Weimarer Republik und dem fabrikmäßigen Morden der Naziherrschaft dabei, daß die Rechtsidee nicht besser sein kann, als die Gerechtigkeit gegen andere Positionen, die Humanität, die sie voraussetzt. Ich erinnere ein Gruppengespräch, in dem er 1946 das »neue Recht« der Nürnberger Prozesse anerkannte; aber angesichts der Diffamierung menschenrechtlicher Grundsätze durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki bezweifelte er, daß es zur Rechtssicherheit beitragen werde. Man könne nicht ständig mit der Bombe drohen, ohne sie endlich zu werfen. Das sei die Erfahrung aller bisherigen
Machtpolitik, doch müsse man bereit sein, sich eines Besseren belehren zu lassen: »Und genau hinhören.«
»Skepsis und Glaube« war das Thema eines fast gleichzeitigen Fontane-Essays. Die politischen Schriften aus der Weimarer Zeit (Bd 12, 13 Alessandro Banratta), wie die kulturpolitischen (Bd 4 Hermann Krämer) werden wohl belegen, daß seine eigene Skepsis angesichts unlösbarer Widersprüche und sein Glaube, dennoch zum »Besseren« hin entscheiden zu sollen, mit seinem fachlichen Kampf gegen das alte Strafrecht und für an »Besserungsrecht« übereinstimmen.
Darüber wird man diskutieren können, wenn die Bände 7-11 (Ulrich Schroth, Arthur Kauf-nann, Rudolf Wassermann, Albert Krebs, Ulrich Neumann) und die von Heinrich Scholler bearbeiteten Bände 14 und 15 («Staat und Verfassung», »Rechtvergleichende Schriften») vorliegen werden.
Da die rechtsphilosophischen Erwägungen Radbruchs an Aktualität nicht eingebüßt haben, und die Entwicklung der Praxis sich nicht überstürzt, empfiehlt es sich, einstweilen die bisher beste Einführung zu Radbruch zu studieren, die Arthur Kaufmann außerhalb der Gesamtausgabe vorlegt:
Arthur Kaufmann: Gustav Radbruch. Rechtsdenker, Philosoph,Sozialdemokrat,Piper Verlag, München 1987; 222 S., 19,80 DM
Das Bändchen würde wohl die Zustimmung des Porträtierten gefunden haben. Und es hätte ihn gefreut, daß einer aus seiner letzten Studentengeneration es geschrieben hat. Radbruch hat in den Heimkehrern von 1945 »ein Saatfeld« gesehen und die Gefährten seines Sohnes Anselm, den ihm die Schlacht um Stalingrad genommen hat.
Gustav Radbruch: Gesamtausgabc in 20 Bänden; herausgegeben von Arthur Kaufmann, Band 1 Rechtsphilosophie 1, bearbeitet und biographisch eingeleitet von Prof.Dr.Dres.h.c. Arthur Kaufmann, 1987. X, 646 S., 198,- DM; Band 16 Biographische Schriften, bearbeitet von Prof. Dr. Günter Spende!, 1987. XII, 499 S., 168,- DM; beide C.F-Müller Juristischer Verlag, Heidelberg.