Erzählen entlastet das Gedächtnis des Erzählers. Es verlagert die Unruhe unerledigter Erinnerungen in das Gehirn des Lesers. Die Entlastung kann viel wiegen oder wenig. In jedem Fall fixiert sie den Sachverhalt aus dem Unbestimmten, wenn sie aufgeschrieben oder gar gedruckt wird. Deshalb soll man ja auch nie der Polizei etwas zu Protokoll geben. Es wird einem unweigerlich wieder unter die Nase gehalten: ja, aber da steht doch …
Schriftsteller, die Romane schreiben, haben es gut: sie entlasten sich von dem, was sie schon hundertmal mündlich erzählt haben, oder tausendmal hätten erzählen wollen, aber sich nicht getraut haben, sich durch das gesprochene Wort festzulegen. Sie behaupten, es sei erfunden. So einer ist der Lenz. Es ist natürlich gar nichts er-funden, sondern ge-funden, soll heißen, das richtige Wort und der maliziöse Satz sind gefunden, ohne daß die längst widerlegte Behauptung der Historiker repetiert würde, so sei es gewesen. „Es”, was heißt denn das?
Journalisten wie ich haben es noch ein wenig besser als Erzähler, ihnen glaubt sowieso keiner, was sie erzählen, höchstens das, was sie behaupten, und das kommt am Schluß. Also, lieber Freund, verfahren wir so in den abgesteckten Grenzen: „Au net schlecht!” hat er nicht gesagt, der Hermann Lenz, als ich unsere Verspätung in der Birkenwaldstraße damit entschuldigte, daß wir uns eben ein Haus im Allgäu gekauft hatten. Es war an einem trüben, eher schon sehr trüben Novembertag des Jahres 1958. Das abendliche „Glas Wein”, zu dem man sich in Stuttgart zu verabreden pflegte, hatte auf uns gewartet, obwohl die Autofahrt über Wangen, Ravensburg, Sigmaringen, Hechingen, Tübingen durch notorische Nebeltäler und die steilengen Kurven der alten Bundesstraße 32 besser eine Schleiche als eine Fahrt zu nennen gewesen wäre.
Er guckte hinter seinen Brillengläsern hervor und zog die herabgezogenen Mundwinkel noch ein kleines bißehen nach unten. Ich las daraus „Spinnet Sie?”; aber gesagt hat er es nicht. Er begann vielmehr ein Gespräch über den kühnen Entschluß, sich mit fünfunddreißig aufs Land und „fort von de Leit” zurückzuziehen. Er sagte „zurückziehen”, und das hätte er nicht tun sollen, denn nun konnte ich Betrachtungen über Schriftsteller anstellen, die in der Stadt sich in ihr Dichterstübchen im Elternhaus zurückziehen. Das Thema wurde heikel.
„Heikel” bedeutet im Schwäbischen nicht einfach „empfindlich” und „Vorsicht Glas!”. Es bewahrt seine tiefere Dimension von „eigen”. Wenn eine Sache „heikel” ist, tut der Nichtschwabe gut daran, die Warnung zu erwarten: „wisset Se, do bin i eigen”. Theodor Heuss, 1963 auch in der Birkenwaldstraße ansässig, hat es so gebraucht, als der Ulmer Oberbürgermeister Theodor Pfizer und ich ihn drängelten, seinen Artikel für unser „Baden- Württemberg”-Buch endlich abzuliefern. Aber dann normalisierte das nächste Kirschwässerle die Konversation.
Hermann Lenz hat seine Stuttgarter Jahre in Romanen im wahrsten Sinne des Wortes verewigt. An jenem Abend ging das Gespräch auch um die Stadt. Er hielt an ihr fest wie nur einer. Ich verließ sie gern. Meine altbadischen Vorurteile fand ich durch die Erlebnisse anderer bestätigt, die bei mehr als einem „Glas Wein” zur Sprache kamen. Chefredakteur Helmut Cron und Frau stammten aus Mannheim ― das zählt also nicht, weil auch badisch. Aber Alfred Anderseh, Radioredakteur und Frau Gisela, auf dem Absprung ins Tessin, der scharfsinnige und -züngige Rheinländer Franz Schonauer, gleichzeitig mit Frau Hanne Lenz Lektor bei Klett, residierend mit seiner eleganten Berliner Frau in Stahlrohrmöbeln auf dem Bopser – so heißt ein Villenviertel in der beliebten Halbhö-
henlage ―, das Hamburger Paar Helmut Braem und Elisabeth Kaiser, beide fasziniert von Faulkner und Steinbeck und der nordamerikanischen Literatur überhaupt, der Lyriker Karl Schwedhelm, täglich mit der Vorortbahn zum Südfunk anreisend – sie alle waren keine Württemberger und konnten das Stuttgarterische nicht erlernen, auch Enzensberger nicht und Heissenbüttel. Zu schweigen von den beiden nordostdeutschen Akademikern im südwestlichen Exil, Rudolf Pechel und Hermann Kasack, und dem Mannheimer Robert Haerdter.
Daheim waren der Lyriker Otto Heuscheie, Hofmannsthalverehrer auf schwäbisch, das er noch breiter sprach als Hermann Hesse, der Lateindichter und Zeitungsbesitzer Josef Eberle, der Sprachkritiker Gerhard Storz, zeitweise Kultusminister. Doch lebten sie für sich, wie in jeder Stadt die Alteingesessenen unter sich bleiben wollen.
Hermann Lenz, in seiner distanzierten Wachheit verband die fremden Kreise. Freilich traf ich ihn nie dort, wo sich die „Geistigen”, ― wie damals noch Werner Kraft, Hans Reisiger, Richard Friedenthal sagten ― wo sie sich in Szene setzen mußten bei den Empfängen und Staatsaktionen, bei den Festivitäten, die „wahrnehmen” muß, wer dazugehören will. Ihm fehlte der Sinn für Feierlichkeit. Dennoch erging es dem Erzähler Hermann Lenz nicht besser als seinem Kollegen Theodor Fontane. Der Ruhm hatte ihn längst eingeholt, als er rückblickend kokettierte: „Suche nicht weiter. Man bringt es nicht weit/ Bei fehlendem Sinn für Feierlichkeit.”