Sehr geehrter, lieber Harry Pross, liebe Kommilitonen und Kommilitoninnen, verehrte Gäste und Kollegen,
die Vorlesungsreihe, die heute beginnt, ist ein verspätetes Geburtstagsgeschenk an den akademischen Lehrer, Wissenschaftler und Publizisten Harry Pross. Und da den geschenkten Gäulen entgegen landläufiger Meinung – besonders gern und tief ins Maul geschaut wird, erlauben Sie mir einen kurzen Blick in die Anatomie dieses Mauls nebst Feststellungen zur publizistischen Beißfaulheit und akademischer Prothetik.
An diesem Geburtstagsgeschenk ist so ziemlich alles anders als an üblichen Geburtstagsgeschenken. Der Beschenkte ist hier nicht eigentlich Harry Pross, sondern Beschenkte sind die Studenten und Mitglieder des Faches Publizistik, denen das Pross’sche Gedankengut, seine Art zu urteilen und zu formulieren als Anstöße dienen sollen die Einheit des Faches und seinen Sinn erneut zu überdenken. Das modernistisch, akademische Schlagwort hierfür heißt Deregulation. Das bedeutet in der Situation des Faches:
In der Publizistik ist Charakter mindestens ebenso wichtig wie handwerkliches Können und Urteilskraft.
Harry Pross steht für all dies. Um ihn herum ranken sich viele und kluge Anekdoten und Bonmots, die seine Persönlichkeit beleuchten und er selber wird nicht müde, ständig neue zu produzieren oder der Anlaß dafür zu sein.
Mancher Kollege und manche ältere Studenten erinnern sich noch an einen Satz, der in der Presse zu seinem 65. Geburtstag aufgenommen wurde und der als Kommentar immer dann fällig ist, wenn eine Idee gar zu faul, ein vorgeschlagener Weg gar zu krumm sind:
»Das kann man so machen.« Dieser liebenswürdige Ausdruck tiefer Degoutanz für Sachverhalte, die ihm mißfallen! Seine Bemerkungen sind stets zutreffend und nicht ohne sanfte Hinterlist.
Aber sie sind nie belehrend, zurechtweisend oder verletzend. Sie sind sanft, liebenswürdig, menschlich und von bestechender Brillanz. Vor Jahren angesprochen auf einen Studenten, der nun endlich im 18. oder 20. Semester Prüfung machen wollte, stellte er lapidar fest: der muß doch gut sein, wenn der so lange studiert hat. Oder bezeichnend für seinen Umgang mit Institutionen: »Ich habe der Universität meinen Kopf aber nicht meinen Hintern verpflichtet.« Es ging um die Residenzpflicht von Hochschullehrern am Hochschulort.
Als wir über das Thema seines heutigen Vortrags gesprochen haben, war das zu einer Zeit, als die Universität anfing, sich selbst aus Anlaß ihres 40jährigen Bestehens zu feiern und das erste Grollen studentischer Proteste wurde laut. Ein Themenvorschlag – ich weiß heute nicht mehr genau, welchen Inhalt er hatte – erschien mir zu akademisch und ich bat um einen weniger »zahmen« Titel. Harry Pross rief zurück und nannte sein Thema, das unverändert das heutige Thema ist. Ich muß wohl längere Zeit geschwiegen haben, denn aus dem Allgäu kam ganz sanft und hintersinnig: »Sind Sie noch dran?«
Dabei hatte ich mir nur einen Stuhl gegriffen und versuchte in Windeseile abzuschätzen, welche Brisanz dem Thema in der aktuellen Situation der Universität zukam.
Das schönste Kompliment aber hat Ihnen, Herr Pross, als akademischem Lehrer ein Student gemacht, der mir vor einigen Tagen erzählte, er habe über seinem Schreibtisch einen Satz von Harry Pross hängen, den dieser bei seinem Abschied dem Seminar mit auf den Weg gegeben habe: Lesen Sie viel, denken Sie viel, aber denken Sie mehr als Sie lesen.
Ich danke Ihnen, daß wir die Ehre haben, eine publizistische Vorlesungsreihe nach Ihnen benennen zu dürfen, die sich solchem Denken verpflichtet. Mein Dank am Zustandekommen der Harry Pross-Vorlesung gilt auch dem Leiter des Außenamtes der FU Herrn Dr. Horst Hartwich, der auf seine ebenfalls unkonventionelle Art dazu beigetragen hat, daß wir diese Vorlesungsreihe einrichten konnten.