Fragte man den Schriftsteller, dem die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ihren Respekt erweisen möchte: »Harry Pross, viel gewanderter in Metropolen nicht anders zu Haus als in Ihrer idyllischen Klause: gelehrter Essayist, homme de lettres und Lehrer rebellischer Studenten, Poet dazu und Enzyklopädist, wie kommen wir mit Ihnen ins Reine?«, so würde, ich bin dessen sicher, unser Preisträger antworten: »Wer ich bin? Sehr einfach: Lesen Sie meine Bücher, die Autobiographie vor allem, Memoiren eines Inländers [Inländer, wohlgemerkt, nicht Deutscher, Zivilisten meines Schlags haben eine Heimat, Baden oder das Allgäu oder Europa, aber kein Vaterland, das Botmäßigkeit von ihnen verlangt], meditieren Sie gemeinsam mit mir über die Freundschaft und nehmen Sie Stellung zu meinem Olymp, den die Besiegten bewohnen und nicht die Triumphatoren, die Söhne Kassandras (unter denen leider die Frauen fehlen, Rosa
Luxemburg so gut wie Ricarda Huch an ihrer Spitze), und schließlich, wenn Sie — was ich lobe! — ein wenig Abstand gewinnen wollen, dann bedenken Sie, welche Autoren in meinen — Gott sei’s geklagt — weit verstreuten opera omnia als Leitfiguren fungieren: Montaigne, Hermann Broch, Golo Mann, Albert Camus: Skeptiker und Aufklärer allesamt, Moralisten und Anwälte der Humanität, die nicht jubeln mögen, wenn ihre Widersacher besiegt sind, sondern in der Haltung jenes Albert Camus, meines verläßlichsten Gewährsmanns, verharren, der, im vierten seiner Briefe an einen deutschen Freund, die Sätze schrieb — der algerische Kosmopolit im geheimen Gespräch mit einem Nationalsozialisten aus Deutschland: ›In dieser europäischen, vom Hauch des Sommers durchwehten Nacht [Juli 1944!] rüsten sich Millionen bewaffneter und wehrloser Menschen zum Kampf. Der Tag bricht an, da sie endlich besiegt sind. Ich weiß, daß der Himmel, der eure furchtbaren Siege voll Gleichgültigkeit betrachtete, eure gerechte Niederlage ebenfalls gleichgültig hinnehmen wird. Auch heute erwarte ich nichts von ihm. Aber wir werden zumindest dazu beigetragen haben, die Kreatur vor der Einsamkeit zu retten, in die ihr sie verweisen wolltet. Weil ihr diese Treue zum Menschen verachtet habt, werdet ihr nun zu Tausenden einsam sterben.‹«
Harry Pross, gesehen aus der Perspektive Albert Camus‘: das ist, seit den vierziger Jahren, da unser Preisträger zum ersten Mal die Briefe an einen deutschen Freund las, ein Mann, der inmitten einer durch globale Absurditäten bestimmten Welt nie das entschiedene, aber ohne Pathos gesprochene »Dennoch« aufgibt – ein »Dennoch«, das, wie es in den Memoiren des Überlebenden heißt, in den Jahren, die dem Krieg folgten, »nach dem Herzen der Überlebenden war, weil es sie zu Befreiten machte.«
Wer wäre, so betrachtet, nicht gern dabei, wenn in Harry Pross‘ imaginärem Olymp, Montaigne mit Castellio, dem couragierten Widersacher Calvins, über die Gedankenfreiheit, des Alpha und Omega der Prosschen Gedanken-Expeditionen diskutiert; wer nähme nicht gern, wäre er denn eingeladen, gern in der Nähe einer Tafel Platz, an der Scharfzüngigkeit sich mit altvorderlichen Tugenden, dem Respekt, der Bereitschaft, von seinem Nachbarn zu lernen, und nicht zuletzt der Höflichkeit verbindet — einer Urbanität, die in guten Zeiten die Linken auszeichnete: Karl Liebknecht und Fräulein Dr. Rosa Luxemburg siezten einander, und wenn, Jahrzehnte später, Hans Mayer gefragt wurde, warum er seinen alten Freund und Kampfgefährten Stephan Hermlin nicht duze, dann wurde unverzüglich beschieden: »Weil ich ihn schätze.«
Harry Pross hat sich, in der Mitte libertärer Linker — dort, wo er zu Hause ist — neben den Meistern von gestern, Alfred Weber oder Radbruch, nicht zuletzt Camus als Weggefährten erwählt, weil im bescheidenen Lektoratsgemach des Verlags Gallimard das »Dennoch« nicht emphatisch, sondern beinahe lächelnd formuliert wurde: unvergessen der Augenblick, da mir der Mann, der auch für mich, über die Jahrzehnte hinweg, eine hermetische Figur gewesen ist, spätere Überlegungen vorwegnehmend, Sisyphos‘ Janus-Gesicht beschrieb: »Als ich jung war, sah ich ihn vor mir: wie er den Stein mit verbissenem Gesicht verzweifelt den Berg hinaufzuschieben versucht. Jetzt blicke ich ihm beim Bergabgehen nach: er ist entspannt und voll Hoffnung, lächelt, holt Atem, seine Bewegungen zeigen: Dennoch! Ich werde es wieder versuchen, immer wieder, bis das Werk gelungen ist.«
Dennoch als Lebens-Devise eines Menschen, der mit seinem Weg-Begleiter Albert Camus die Dialektik von solidaire und solitaire praktiziert: Unter diesem Zeichen rückt ein Autor ins Blickfeld, Harry Pross, der sich treu geblieben ist: verläßlich, entschieden, weltläufig und, in unverwechselbarer Weise, links: »Links«, schreibt aus der ihm eigenen Distanz der Inländer, »nenne ich eine Haltung, die darauf aus ist, allen Menschen so viel sozialen Spiel-
raum zu verschaffen, daß sie ihr Subjekt […] in der unvermeidlichen, lebenslangen Auseinandersetzung mit der Umwelt in möglichst freier Wahl, den Umständen entsprechend erneuern können. Wie jede menschliche Haltung ist auch die Linke eine Antwort auf die Mitteilungen ihrer jeweiligen Umwelt und als solche fraglich. Zur Linken gehört der verantwortliche Zweifel an sich selbst, den anderen und den Umständen, aber nicht der Glaube an Mächte, Institutionen, Parteien, die […] Sicherheit suggerieren, wo keine ist.«
Keine Schicksalsgläubigkeit also, kein Ernst-Jünger-Pathos (»Das Strittige ist so gehäuft, daß nur das Feuer es aufarbeiten kann«, wurde am 1. September 1939 in Kirchhorst notiert), wohl aber gelassene Benennung historischer Mitgift, gegenwärtiger Verpflichtung und besonnen zu leistender Arbeit im Blick auf die Zukunft; eine Arbeit, die, geleitet vom berühmten Paragraphen der französischen Revolutionsverfassung von 1793 zu leisten ist: »Die Gesamtgesellschaft ist unterdrückt, wenn auch nur ein einziges ihrer Glieder unterdrückt ist. Jedes einzelne Glied ist unterdrückt, wenn die Gesamtgesellschaft unterdrückt ist.« Das aber heißt für Harry Pross: Humanität ist ohne niemals endende Rücksichtnahme auf Gedanken, Träume, Phantasien des »Nächsten« im neutestament-
lichen Sinn nicht zu haben: »Ausgliederung des Anderen«, »Ausschluß« von oben her hat als Verstoß gegen jene Mitmenschlichkeit zu gelten, die der Gruppen- und Parteidisziplin vorangeht.
Harry Pross ist ein Anwalt der Mühseligen, Gedemütigten, ins Lager und ins Gas Gejagten: Gefährte seines Kompatrioten Gustav Landauer und Sympathisant der von Baden aus nach Gurs Transportierten: ein Unbestechlicher, der Vokabeln wie »Pazifist« (heute wieder ein Schimpfwort, wer hätte das vor Jahren gedacht?) oder »Gesinnungs-Ethiker« ebenso anstrengungslos wie exakt überlegt akzeptiert: Im Zeitalter atomarer Abschreckung sind es nicht die Atomwaffengegner, sondern die »politischen Regenmacher«, die wohlbegründete Widerlegungen einer dubiosen Strategie als »Gesinnungspolitik« abtun wollten — das ist ein Gedanke, der heute neue Relevanz gewonnen hat.
Wieder und wieder beleuchtet in Harry Pross‘ Werk das Gestern, mutatis mutandis, das Heute; überraschende Parallelen leuchten in gleicher Weise auf, wie witzige Antithesen: »Wenn die SED die Mauer nicht gebaut hätte, hätten ihre Feinde sie erfinden müssen, um in unserer Reisewelt stets einen Beweis für die Zivilisations-
feindlichkeit der DDR zu haben. Was waren das für Kommunisten, die ihr eigenes Manifest nicht kannten, in dem Marx/Engels den ›unendlich erleichterten Kommunikationen‹ zuschrieben, daß mit ihnen die Bourgeoisie »die barbarischsten Nationen in die Zivilisation reiße.«
Je öfter sich der Leser in die opera omnia des von uns Geehrten vertieft, die gelehrten, von der Zeichentheorie bestimmten Traktate über Publizistik und Kommunikation — mit der Formel »Signal-Ökonomie« als Schlüsselbegriff — mit Hilfe vieler Bleistiftstriche in der Bibliothek studierend, die Essays und narrativen Passagen sich mehrfach, mit Entzücken im Liegestuhl zu eigen machend, desto reicher entfaltet sich seine Phantasie; er arbeitet, denkt weiter, kehrt um und beginnt zumal dann mit Vergnügen noch einmal von vorn, wenn der Verfasser ihn dank seiner Zwei-Zeiten-Technik, hier Imperfekt (»Was wußte ich zu einer Zeit, als das Ereignis geschah?«) und dort Präsens »Was weiß ich heute, da ich Geschehenes interpretieren kann?«), sokratisch-heiter fasziniert. Da wird Zeugenschaft eingefordert, kritisches Mitdenken und Sympathie, die im Bund mit Rationalität bleibt.
Mit jedem Kapitel häufen sich die Fragen auf Seiten der Leser: Dr. med. Friedrich Wolf als Hausarzt — wie mag er praktiziert haben im Hause Pross, der Vater von Konrad und Markus? Wie verliefen, im Detail, die Dispute in jenem Heidelberger Mikrokosmos, wo sich, ein Jahrzehnt vor der Immatrikulation des Studiosus Pross, George und Lukacs, Max Weber und Ernst Bloch auf dem Philosophenweg trafen?
Konfigurationen am Neckar (in Heidelberg, nicht in Tübingen, der württembergischen Provinzstadt, von der aus das badische Heidelberg als Abglanz von Paris erschien), Konfigurationen zwischen dem »bolzengeraden« Jaspers und dem zierlich daherkommenden, unerschrocken dozierenden Gustav Radbruch: pointilistisch beschrieben, witzig und, vor allem, leicht, ja, beinahe schwebend.
Pross liebt das Vorläufige, Andeutende mehr als die ausgeformte, anmerkungsreiche Abhandlung im Stile der Zunft. (Gut, daß er viele Zünfte beherrscht, zwischen Historiographie und Kommunikationswissenschaft.) Dabei bleibt der Autor als genuiner Essayist in Theorie und Praxis unberechenbar: ein dezidierter Linker und
Anwalt des Friedens, der, auf den Spuren seines Wanderfreundes Golo Mann, Gentz um dessen Stil willen bewundert oder, mitten im Preislied auf den großen Ausbruch der Jugendbewegung, ins Freie, Offene, Koebel-Tysk an der Spitze, und bei der Fahnen-Beschwörung (»Warum verzaubern, beschwingen, erregen wehende Fahnen die jungen Burschen? Und warum die Schwarzen am meisten, die einen Vogel, weiße Wellen, einen gespannten Bogen oder ein Segelschiff zeigen: Symbole der Männlichkeit?«) plötzlich mitten im Enthusiasmus innehält und, mit Hilfe satirischer Verfremdung, einen Reklamesong konterkariert, mit dem eine Heilbronner Fabrik in der Zeitschrift »Der Pfadfinder« im Stil teutonischer Jugendbewegter für ihr Produkt wirbt: »Auf fürstlicher Tafel mit all ihrer Pracht, / Im Hüttlein des Armen, von Stroh überdacht, / Beim Picknick im Walde, bei Jagdmahl im Schloß, / In ruhiger Werkstatt, auf schwimmendem Floß, / In glühender Steppe, in Eis und in Nacht, / Hoch oben im Luftschiff, tief unten im Schacht: / All überall sind sie geschätzt und begehrt, / die köstlichen Suppen, die KNORR uns beschert!«
Wo andere, formelhaft, ins Magistrale verfallen, liebt Harry Pross, anschaulich erzählend, eine genuin schriftstellerische Manier, stellt Fragen, durchdenkt Zweifel und argumentiert, wenn er in Fahrt ist, auch einmal gegen sich selbst, wenn gerade kein ebenbürtiger Gegner ausgemacht werden kann. Nur keine Selbstgespräche, heißt die Devise, sondern Dialoge, den starren Antithesen wie dem eingedrillten Wir-Sie, die Eigenen-die Anderen, die Kinder des Lichts und die Söhne der Finsternis den Garaus machend.
Geselligkeit, zivile Unterhaltung, urbanes Plaudern, Esprit und Noblesse stehen im Zentrum Prosscher Diatriben, die belegen, wie souverän die ihm von Grund auf verhaßte Uniformität des Militärischen, das Miteinander von Korporalston und Subordinarität widerlegt werden kann – und das nicht nur verbal, sondern auch mit Hilfe spontaner, von Selbstbestimmung und Solidarität bestimmter Aktionen: Wer den Traktat »Protest«, 1971 publiziert, gelesen hat und sich in der Lage sieht, das Kapitel »Demonstrationen« auf die Leipziger Montage anzuwenden, ist vor der Gefahr gefeit, den Ausdruck »die Straße« noch einmal obrigkeitsstaatlich zu benutzen: Hätt’s, wir, eine deutsche Einheit ohne den »Aufstand der Straße« gegeben?
Freilich, viele sind es nicht mehr, die anno 2001wie Harry Pross argumentieren; aber war das, ungeachtet der besonderen Situation um 1970, die der im Namen Tucholskys Ausgezeichnete ebenso präzise wie sarkastisch beschreibt: welch ein Weg von den Anschlägen der Rote-Armee-Fraktion bis zum Radikalen-Erlaß, in dessen Verlauf die Zivilgesellschaft mehr und mehr an Überzeugungsmächtigkeit verlor… war das, fragt Harry Pross, in Zeiten anders, da Kelsen und Hermann Heller fernblieben und Globke, Forsthoff und, aus dem Westfälischen grollend, Carl Schmitt das Sagen hatten: die alt-neue Elite wiederum an der Tete?
Und dennoch das Versprechen: Ich gebe nicht auf Ihr könnt euch auf mich verlassen, noch ist das letzte Wort nicht gesagt. Camus bleibt Vorbild, über die Zeiten hinweg: »Als Erbin einer morschen Geschichte«, betont, von Pross nachdrücklich zitiert, die Nobelpreisrede von 1957, »in der verkommene Revolutionen, total gewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologen sich vermengen […], in der die Intelligenz sich so weit erniedrigt, der Unterdrückung zu dienen, sieht meine Generation sich vor die Aufgabe gestellt, […] in sich und um sich ein Weniges von dem wiederherzustellen, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht.«
Harry Pross, dem legeren Parlando und der inspirierenden Distanz als heiterer Emeritus im Allgäu-Olymp mit der gleichen Souveränität wie in halb kuriosen, halb grimmigen universitären Gefechten verpflichtet, hätte das alles, jenseits der 75, umgeben von den Freunden an der ima ginären Tafelrunde, postiert zwischen zwei enragierten Zivilisten Gervinus und Golo Mann, ein wenig schlichter formuliert, in der Sache aber —denke ich — die Zentralthese et tarnen nachdrücklich unterstrichen.
Danach aber würde er, der die feierliche Weihe haßt, Kurt Tucholsky zitieren, den er seit seiner Jugendzeit kennt: »Fromme Gesänge von Theobald Tiger, eingeleitet von Ignaz Wrobel. Auf dem häuslichen Dachboden entdeckt.«
Und ein halbes Jahrhundert später dann die Ehrung im Deutschen Theater: Das nenne ich mir Kontinuität im republikanischen Geist Welch ein Leben — und wie viel Lessingscher Witz über die Jahrzehnte hinweg!
Wie heißt es, Verehrter und Lieber, in Ihren Memoiren, die endlich neu aufgelegt und bis in die Zeit der pax Americana fortgeführt werden sollten: »Tucholsky schrieb, als er 1933 die erste Hitlerrede über Radio in der Schweiz gehört hatte, sie habe nach Hose gerochen. Nicht jeder kann wie Tucholsky die verschiedenen Sinneseindrücke in der Sprache konzentrieren.«
Jeder gewiß nicht, lieber Harry Pross, Sie aber sehr wohl, in der Fülle Ihres zwischen epigrammatischer Knappheit und erzählerischer Buntheit souverän wechselnden Stils. Nicht zuletzt deshalb haben wir Ihnen diesen Preis verliehen, für den ich Ihnen, reich belehrt nach wiederholter Zweitausend-Seiten-Lektüre, im Namen unserer Sozietät herzlich gratuliere.