An einem Januartag. des Jahres 1961 holte ich meinen Freund, Viktor Otto Stomps, vom Bahnhof ab. Behend, mit der Grazie der Fülligen, sprang er die zwei Tritte des Wagens hinunter auf den tiefverschneiten, offenen Bahnsteig, an dem Schnellzüge München-Genf, wenn überhaupt, nur eine Minute halten: Röthenbach im Allgäu.
Stomps, nach der ersten Freude des Wiedererkennens, sah verdrießlich drein, als ich ihn fragte, wie die Reise gewesen sei. »Ach, weißt du, schrecklich, ganz schrecklich.«- »Wieso das? War der Zug nicht geheizt? Das Fenster nicht richtig geschlossen? Nichts zu trinken dabei?« -„Nein, nein, nichts von alledem. Von Frankfurt bis Ulm war ja alles gut, nette Leute und viel Wechsel. Aber dann von Ulm bis Immenstadt saß ich mit zwei Eisenbahnern allein.« – »Na, und?« – »Na und, na und – die Kerle sprachen die ganze Zeit nur darüber, wie man Züge rangiert; hätten die nicht einmal über etwas anderes reden können, zum Beispiel über Literatur?«.
Es gab für Vauo Stomps in jenen Jahren nur ein Thema, über das sich die Rede lohnte, die Literatur. Zu allem Verdruß blieb an jenem Ünglückstag, der durch Eisenbahnergespräche verdorben war, mein altes Cabriolet im Schnee stecken, als wir die letzten hundert Meter zum Haus über die zugefrorene Wiese des Nachbarn fuhren. »Ich werde dich einweisen«, sagte Stomps, stieg aus und gab seine Kommandos mit fester Stimme: »Vor, zurück, mehr Gas, nein, weniger Gas, viel weniger Gas, rechts einschlagen, links!« Nach ein paar Minuten hatten wir die Wiese soweit aufgeweicht, daß Stomps erklärte, es helfe nur noch herausschaukeln. Er werde schieben. In schwerem Überzieher, weiten, grauen Hosen und schwarzen Halbschuhen machte er sich ans Werk, und wir kamen tatsächlich nach Hause; aber mit einem lädierten Vauo. Er hatte sich einen Hexenschuß zugezogen. Wir mußten den schweren Mann ins Gemeindekrankenhaus schaffen.
Dort wollte er nach zwei Tagen wieder abgeholt werden. Warum? »Weißt du; schrecklich, schrecklich, diese Schwestern!« Die Schwestern – sprechen sie nicht über Literatur? »Doch, doch, das schon, soweit sich Nonnen darauf verstehen; aber sie kommandieren wie die Feldwebel.« Das mochte sein oder auch nicht. Die Schwestern waren ehrwürdig und ergraut in der doppelten Autorität der frommen Frau und der Arzthelferin.
Sie erinnerten ihn, sagte Stomps, an eine Kinderschwester, die er hatte, als er vier oder fünf Jahre alt war. Sie beschwerte sich bei den Eltern, als er im Park sein Wasser abschlug, »die gräßliche Ziege, – eine Französin!« Mochte die Ähnlichkeit der 60jährigen Bayerischen Dorfnonnen mit dem französischen Kindermädchen in Krefeld oder Berlin auch gering sein, wir holten den Patienten samt Hexenschuß, ab, und es ging dann ja auch.
Ich habe die Anekdote erzählt, weil sie mir Charakterzüge von Vauo Stomps zu verdeutlichen scheint, wie sie in 20jähriger Freundschaft immer wieder hervortraten. Erstens die Auflehnung gegen Zwänge, die er letztlich auf das andere Geschlecht zurückführte. Die Erzählung vom französischen Kindermädchen kehrte häufig wieder, aber immer im Zusammenhang mit Reglementierungen, denen er sich unterwerfen sollte, zum Beispiel dem Steuerzahlen, dem Abfahren, dem minutiösen Ablauf einer Hörfunkaufnahme und jeglicher Art von Termindruck, Ich weiß nicht, ob sie eine Erfindung seiner reichen Phantasie gewesen ist oder ob es die Demoiselle gegeben hat. Er hat sie bis in seine alten Tage als Urmutter aller Zwänge verabscheut.
Zweitens, diese Hilfsbereitschaft, über die eigenen Mittel und Fähigkeiten hinaus. Sie wurde schamlos ausgenutzt. Die Psychoanalyse würde sie wahrscheinlich mit der Kinderschwester in Verbindung bringen. Aber mir scheinen die Auswirkungen deutlicher als die vermutbaren Motivationen.
Vauo Stomps hat, wie andere sensible Knaben seiner Generation, diese Hilfsbereitschaft zuerst in der Jugendgruppe bewährt, im Steglitzer Wandervogel. Er hat den Wandervogel, wie Ernst Blüher, als erotisches Phänomen erlebt. Vom Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 war es dann kein langer Weg zum Kriegsleutnant in der absoluten Männergesellschaft der Armee mit ihren ideologischen Überfrachtungen links und rechts. Als das Ende sich abzeichnete, 1917 mit der russischen Februarrevolution und dem Kriegseintritt der USA, war Stomps noch nicht zwanzig.
In diesem Alter machen ein paar Jahre mehr oder weniger subjektiver Lebensgeschichte für die Einschätzung der historischen Daten viel aus. Heranwachsende deuten die sozialen Ordnungen noch egozentrisch. Sie machen für ihre subjektiven Schwierigkeiten leichthin das System verantwortlich. Nicht die Summe der Erfahrungen bestimmt die Reflexionsfähigkeit. Die Reflexion hängt vielmehr von der Fähigkeit ab, andere Positionen nachzuvollziehen.
Aus der egozentrischen Einverleibung der Welt erneuert sich der politische Infantilismus. Er war 1918 in den offenen Traumgebilden der Linken wie in der verschlossenen Trotzreaktion der Rechten wirksam. Vauo Stomps verließ, wenn ich seine Erzählungen aus jenen Tagen recht erinnere, den Ersten Weltkrieg politisch unentschieden, aber entschlossen zur Literatur.
Nach Berlin 1919 zurückgekehrt, begann Stomps zu studieren, querst Jura aus Familientradition, dann Germanistik und Psychologie. Sein erster Gedichtband, »Ein Festtag«, erschien 1920 im Xenien-Verlag, Leipzig. Der junge Dichter verdiente sein Geld als Banklehrling und als Hilfsregisseur bei der UFA, einseitig vielseitig in den Jahren des abflauenden Expressionismus. Mit Hans (später: Jean) Gebser fing er dann an, eine Handpresse zu betreiben, die sie »Rabenpresse« nannten und 1926 in den Verlag »Die Rabenpresse« überführten.
Stomps und Gebser hatten bei dieser Gründung die vielen Kleinverlage des Naturalismus, des Expressionismus und der sozialen Bewegungen vor sich; aber das unmittelbare Vorbild war
Alfred Richard Meyer (Munkepunke), dessen Wirken Herbert Günther 1969 in »Imprimatur« dargestellt hat. Meyer, im Hauptberuf Feuilletonredakteur, hatte seit 1907 einen Verlag, dann die Zeitschrift »Bücherei Maiandros« und die »Lyrischen Flugblätter« aus seinem Gehalt finanziert und dabei für die moderne französische Lyrik wie für den frühen Expressionismus Hebammendienste geleistet. Gottfried Benns »Morgue«-Gedichte erschienen zuerst in »den »Lyrischen Flugblättern«. Paul Zech, eine frühe Entdeckung Meyers, und Munkepunke selbst findet man dann in der »Rabenpresse«. Ebenso den von Kurt Wolff aufgegebenen Alfons Paquet. Walther G. Oschilewski, Zeuge und Mitstreiter jener Jahre, hat sie beschrieben.
Die Drucke der Rabenpresse umfaßten in der Regel einen oder zwei Druckbogen. Selbst die Festschrift zum 50. Geburtstag von Wilhelm Lehmann, 1932, brachte Ludwig Kunz auf nur 27 Seiten heraus – mit Beiträgen von Behl. S. Bing, Corion, Heimann, Loerke, Kasack, Milch, Molo, Pinthus, Stehr, v. d. Vring und Wolfenstein. »Die blaue Reihe«, »Die schwarzen Hefte« kamen mit 15 und 22 Seiten Umfang aus. Das war sozusagen die lyrische Gegenwelt zu den dicken Romanen der Zeit. Fragt man, warum Vauo Stomps und sein Verlagsunternehmen fast fünf Jahrzehnte,
von 1924 bis zu seinem Tod 1970, das literarische Gespräch befruchtet haben, – dann ist eine Antwort in der Beschränkung von Umfang und Auflage gegeben, die den kleinen Formen angemessenen Ausdruck verlieh.
Was Polgar, Tucholsky, Kästner als Feuilletonisten geleistet haben, tat Stomps als Verleger: Er reduzierte »die großen Zeiten« vermittels der kleinen Form. Ein Understatement, dem der Schalk im Nacken saß. Manche haben ihn in späteren Jahren, als er sein Äußeres betont vernachlässigte, als Clown bezeichnet und den Saufkumpan in ihm geschätzt. Heinz Friedrich hat den Irrtum richtig gestellt, denn Vauo war es, der sein Publikum komisch fand und sinnierte, was wohl daran sei, an den Besuchern und Adepten, die zu ihm kamen.
Die kleine Form in Buch, Flugblatt, Zeitschrift hieß für Vauo immer auch Illustration und Graphik. Hier täte der spätere Betrachter gut daran, wie bei den Texten der Reihen, der Einzeltitel und den Themenheften der Zeitschrift. »Der weiße Rabe« (1932-1934), nicht nur nach den großen Namen zu suchen, die er dort findet, wie Alfred Kubin und Ludwig Meidner, sondern nach denen, die dort ihren Anfang machten.
Die kleine Form und die »großen Zeiten« nach 33: Gertrud Kolmars Gedichte »Preußische Wappen«, 1934, und Oskar Loerkes Essay »Das alte Wagnis des Gedichtes«, 1935, zeigen die Tendenz. Werner Bergengruen neben August Scholtis und Frieda Lawrence, »Nur der Wind … Erinnerungen an meine Ehe«. Gedichte von Julius Levien, 1936.
1937 gab Stomps »Die Rabenpresse« auf und führte die Druckerei weiter; aber der Krieg im Inneren drängte nach außen. Hitler, durch viele diplomatische Siege ermutigt, sucht militärischen Gewinn. Stomps schrieb Fabeln und verlegte Privatdrucke. Die kleine Form wurde immer kleiner: »Ausgrabungen, Bekenntnisse, Curiositäten« – das war der Rückzug. Stomps ging in Deckung – beim Militär.
»Den Laden kannte ich schon, da war man relativ sicher«, erzählte er mir 1947, als er nach der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Heidelberg erschien, um nach jungen Talenten Ausschau zu halten. Talente gab es genug; aber keine Literatur. Es ist müßig, herumzurätseln, was Stomps‘ Gespür vermocht hätte, wäre er 1945 im Lande gewesen.
Er kam erst zum Ende der Besatzungszeit zurecht, und die POW-Zeitschrift, »Das Fragment«, die er mit Hans Josef Mundt herausgab, wirkte nicht über das Kriegsgefangenenlager hinaus.
Als Vauo Stomps 1949 in die »Eremiten-Presse« von Helmut Knaupp und Ferdinand Müller seine Erfahrung einbrachte, war die literarische Euphorie des Nachkriegs verflogen. Die Deutschen, von jeher ein Volk von Kaufleuten, wie sie Michael Bakunin genannt hat, entwickelten diese Seite ihres Wesens in staunenswerter Folgerichtigkeit: Wie bauten sie ihre Städte wieder auf und überzogen sie die Dörfer mit Asphalt! Bald glich jeder Stadtrand dem von Detroit, Michigan. Wie hilfreich waren sie, einander die Beine zu stellen! Wie wahrhaftig repräsentierte der trickreiche Greis an der Spitze das Ganze! Und wie sorgten die Eltern, daß die Kinder nicht in die Sünden der Väter zurückfallen mochten! Sie erzählten ihnen nichts davon. Ihre Verlage bauten die Deutschen aus zu Buchfabriken, und, wie schon einmal Jacob Burckhardt 1870 bemerkte, sie zerstörten mit Lust alle kleinen Kreise, in denen der Geist warm saß, zuletzt sogar die Fakultäten. Kein Zweifel: eine große Zeit.
Wieder eine große Zeit: Inmitten ihres größten Bauplatzes, Rhein-Main, bezog Vauo Stomps zuerst eine Mietwohnung, dann 1954 einen Schuppen, vertrieb die Mäuse so ziemlich und nannte die Bleibe dann »Schloß Sanssouris«! Der Lebensunterhalt kam, dank Helmut Dressler, über Jahre hinaus von Layout-Arbeiten, die Stomps für die Büchergilde Gutenberg ausführte. Das Geld, das die Produktion der Eremiten-Presse zusätzlich verschlang, bekam er privat, mitunter durch Verkauf; aber oft waren die Telephonrechnungen höher als der Kassenbestand. In solchen Fällen ersetzten Postkarten die Buchführung. Ein Alptraum für jeden ordentlichen Deutschen und eine radikale Absage an den Geist der 50er und 60er Jahre.
Die Bändchen der Eremiten-Presse, etwa 20 pro Jahr, nicht zuletzt die Zeitschrift »Konturen«, 1952/53, und die »Streit-Zeit-Schrift« ab 1959, sind unabhängig von ihrem Inhalt gegen die Grundtendenz des »Wirtschaftswunders« gedruckt worden. Das meiste von Stomps selbst auf anderswo ausrangierten Maschinen. Dieser hinfälligen Ausstattung mit ihren technischen Tücken und Lücken verdanken wir manches graphische Unikum. Vauo malte mit seinen Maschinen. Das erklärt seine Abneigung gegen höhere Auflagen als 150 Stück, wie auch das Mißvergnügen, das er beim Verkauf seiner Bücher empfand.
Dieser Poet unter den Verlegern wußte sehr genau, daß in seinen kleinen Verhältnissen auch ein möglicher Gewinn der an »Mordsbeträgen« orientierten Branche als pure Albernheit erscheinen mußte. Also hätte er am liebsten auf den Verkauf ganz verzichtet. Indessen widersprach das dem Motiv des ganzen Unternehmens, das Unbekannte zu fördern. »Mich interessiert nur das Momentane, der junge Schriftsteller. Und da sind Irrtümer eher möglich als bei Erscheinungen, die von vorneherein anerkannt sind und per Nenner »Sicher« gebracht werden. Ich nehme es gerne auf mich, mal jemand zu bringen, bei dem ich glaube, er wird, auch wenn das zunächst nicht unbedingt erkennbar ist… Und schließlich: was macht’s, wenn unter den »Ferner liefen« Versuche‘ auftauchen, die zumindest einen kleinen eigenen Kreis anregen, sich überhaupt einmal mit einem Gedicht anstatt mit Schädlicherem zu beschäftigen.« (An Hans Bender, 17.1.61.)
Zwar brachte Vauo Stomps keine literarische Schule ans Licht, wie Wilhelm Friedrich den frühen Naturalismus und Kurt Wolff den Expressionismus gefördert haben; aber er hielt die Zugänge zur
Literatur offen in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Konzentration nicht nur die Finanzen, sondern auch die Prominenzen des Buchhandels veränderte. Ich sehe noch Ernst Rowohlt und Vauo Stomps nebeneinander an ihren Ständen sitzen, Fossilen gleich, über die Frankfurts Buchmesse hinauswuchs.
Kalkulierte Organisationen erzeugen kalkulierte Typen. Der literarische Hochmut wird zum Hochmut des Managements. Vauo, haßte beides. Darum ist er, ein Freund der Fabel und des Fabulierens, selbst zur Fabelgestalt geworden. Was er zu Lebzeiten nicht sein mochte, ist er an seinem achtzigsten Geburtstag: eine fabelhafte Leitfigur einer literarischen Offenheit, die der empfindsame Mann mit den tiefen Lachfalten an den Augen weit über seine Kräfte gelebt hat.