[…] das Judentum hat als einen seiner Grundpfeiler die Gerechtigkeit erkannt […] jeder Angriff gegen die Gerechtigkeit ist ein Angriff gegen uns selbst […] Wir werden immer inmitten einer uns an Zahl vielfach überlegenen Bevölkerung leben […] Eine Feindschaft mit ihnen würde uns in einen ständigen Rüstungs- und Kriegsvorbereitungsstand setzen, sie würde uns aber auch ökonomisch schädigen […] Das nationale Problem würde […] eine schwere Krankheit unseres Staates werden, an dem wir ebenso zugrunde gehen könnten, wie manche anderen Staaten. Es ist seltsam, daß manche unserer Redner und Legionäre, wenn sie schon die ethische Geschichtsbetrachtung ablehnen, nicht aus der Geschichte und der jüngsten Vergangenheit lernen […] werden wir, die Sklaven von gestern, nicht die Imperialisten von morgen […] Verantwortung vor der Menschheit. Bleiben wir ernst und klar und uns selber treu! Hüten wir uns vor jedem Fetischismus, hüten wir uns vor allem vor dem Fetischismus des nationalen Herrenvolkes!
Der Brief des Prager Zionisten Hans Kohn an seinen Jugendfreund Robert Weltsch stammt aus dem Jahr 1919. Er wurde 1922 in seinem schmalen Band »Nationalismus. Über die Bedeutung des Nationalismus im Judentum
und in der Gegenwart« (Wien, Leipzig 1922, S. 64f.) veröffentlicht. Die Freunde hatten vor dem 1. Weltkrieg in der Prager Hochschülervereinigung »Bar Kochbar« zusammengearbeitet, in illustrer Gesellschaft mit dem Philosophen Hugo Bergmann und anderen wichtigen Intellektuellen: Man kann ihre Reihe mit 1880 beginnen, dem Geburtsjahr von Moritz Goldstein, der dann als »Inquit« die Gerichtsreportage der Weimarer Republik bereichert hat. Max Brod, 1884 geboren, hat sich um das Lebenswerk seines Freundes Franz Kafka verdient gemacht. Der Kulturphilosoph Arnold Zweig und der Verleger Kurt Wolff, beide Jahrgang 1887, führten zu Jüngeren, den Brüdern Weltsch und Hans Kohn (1891-1971). Als sie geboren wurden, waren der Freund Stefan Georges und Schwabinger Kosmiker, Karl Wolfskehl (1869), der Lektor Samuel Fischers, Moritz Heimann (1868), Gustav Landauer (1870), Margarete Susman (1872), Jakob Wassermann (1873) und Martin Buber (1878) schon ausgewiesene Autoren.
Hans Kohn war als siebzehnjähriger Gymnasiast 1908 Zionist geworden. Herausgeber des Sammelbuches »Vom Judentum« 1913, trug er einen Aufsatz bei, dessen Thematik nach dem Zerfall der europäischen Kaiserherrlichkeiten im 1. Weltkrieg seine Hauptsorge gelten sollte: Der Buberschen »Verwirklichung« unter einer überwältigenden Mehrheit
von muslimischen und christlichen Arabern. Der Aufsatz trug den Titel »Geist des Orients«. Tatsächlich war nichts wichtiger als diesen Geist zu erkennen, wollte man Herzls Staatsplan in Palästina mit Bubers humanistischem Leben füllen. Der Dualismus von Ost und West war im Judentum schmerzliche Erfahrung, ihn zu überwinden Notwendigkeit.
Als Kohn 1929 aus Jerusalem Buber die erste Ausgabe seiner Biographie des Meisters ankündigte, bedankte er sich für zwei Jahrzehnte Lehre, in deren Mitte ein Zion stand, das sich erst jetzt in seiner wahren Gestalt mir zu erkennen gibt, die mit dem Völkerkrieg in Palästina, einem schlechten Krieg, der mindestens seit 1917 tobt, vielleicht früher, den wir aber von Prag aus um 1910 nicht sehen konnten, keine Gemeinsamkeit kennt.
Kohn hatte seine Anstellung bei einer zionistischen Organisation aufgegeben, lebte mit Frau und Söhnchen in einem arabischen Neubau und brachte sich mit Korrespondenzen u.a. für die »Frankfurter Zeitung« und die »Neue Zürcher Zeitung« durch. Lieber wäre er Lehrer gewesen, wozu seine tiefe Stimme, sein Zuhörenkönnen und promptes Antworten ihn besonders begabten. Seine Berufung auf eine Professur für Friedensforschung ist, wie Bergmann an Buber schrieb, vermutlich aus politischen Gründen gescheitert.
Im Weltkrieg hatte er den Orient in Russisch-Turkestan, als Kriegsgefangener in Ostsibirien, auf dem Rückweg nach Europa in Japan, China und der Mandschurei kennengelernt. Dass der überall aufbrechende Nationalismus »Das Wagnis der Mitte« zwischen Hysterie und schöpferischem Tun selten bestand, wurde zur Lebenserfahrung. Sie ging 1925 ein in die Arbeit für »Brit Schalom« (»Friedensbund«), in dem Prager Freunde um den Gründer von Tel Aviv, den Kibbuz-Organisator und Soziologen Arthur Ruppin (1876-1943), erfolglos einen binationalen Staat im nunmehr britischen Völkerbundsmandat Palästina erstrebten., Kohn, Bergmann, Radler-Feldmann, Kalviriski, Thon, Georg Landauer, zeitweise Franz Oppenheimer. 1929 zählte man 600 000 Muslime, 150 000 jüdische Einwanderer und ca. 80 000 Christen, alle durch Religion, Sitte und Brauch über territoriale Grenzen verbunden. »Nationalität« ist immer ein Symptom von transnationalen Eigenheiten.
Kohn hatte dabei die »Geschichte der nationalen Bewegungen im Orient« (Berlin 1928) vor Augen, die sich zum »Nationalismus und Imperialismus im Vorderen Orient« (Frankfurt a.M. 1931) verdichtete und schliesslich – nachdem die Weimarer Republik sich schon Hitlers »Nationaler Erhebung« hingegeben hatte – als »Die Europäisierung des Orients« 1934 im jüdischen Schocken Verlag
noch in Berlin erscheinen konnte. Das Buch endet mit der Warnung vor dem Nationalismus, der für räumlich begrenzte Bezirke der sozialen und geistigen Welt »neue Ordnung« bedeutet hat, doch auf der Höhe seiner Macht mit einer Situation ökonomischer Erdumfassung nur schwer in Einklang zu bringen sei:
[…] das Erwachen uralter und lang verstorben und erstarrt gewähnter Völker, die die ältesten Kulturträger der Menschheit gewesen sind, ist eines der symbolträchtigsten Geschehnisse der neuen Menschheitsgeschichte, die in Westeuropa eingesetzt, von dort ihren Siegeszug über die ganze bewohnte Erde angetreten hat und alles in ihren Bann einbezieht
Die Kriege des 21. Jahrhunderts sind deshalb nicht isoliert zu verstehen, weder in Palästina, noch in Afghanistan, Fernost, Südamerika und Afrika. Die Imperien des alten Europa haben sich im Zweiten Weltkrieg zugrunde gerichtet. Der deutsche Völkermord an Europas Juden war das Finale, »Auschwitz« bleibt Symbol. Mit den Atombomben auf die zivilen Großstädte Hiroshima und Nagasaki meldeten die USA ihren Anspruch auf Nachfolge an: Militärisch-industrielle Übermacht garantiert keine Staatsweisheit – wenig versprechend für die »Vier Freiheiten« und die UNO.
Kohn wurde durch die Vermittlung des amerikanischen Kanzlers der Hebräischen Universität, Juda L. Magnes, 1931 zum wandernden Professor, um Geschichte, um Ideal und Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Er starb als grosser alter Mann der Nationalismusforschung in Philadelphia 1971, ehe sein 80. Geburtstag in Zürich mit der NZZ gefeiert werden konnte.