In ihr habe der Geist einer unsichtbaren Gemeinde, gelebt, zu der so bedeutende Köpfe wie Anna Achmatowa, Böll und Sacharow gehört hätten, schreibt Harry Pross über Raissa Orlowa-Kopelew, die, wie bereits gemeldet, im Alter von 70 Jahren gestorben ist. Die Autorin und Bürgerrechtlerin wurde 1981 zusammen mit ihrem Mann Lew Kopelew aus der Sowjetunion ausgebürgert und durfte erst vor kurzem ihre Heimat erstmals Wieder besuchen.
Wir waren vor dieser letzten, mit Zweifeln erwarteten Moskaureise von Raissa und Lew Kopelew Übereingekommen, dass sie im Sommer Über Anna Achmatowa sprechen sollte. Diese Dichterin war ihre grosse Liebe. Sie wollte für sie werben, sie dem deutschen Sprachgebiet näher bringen, wie Raissa Orlowa immer geworben hat für das, was ihr am Herzen lag. Nun werden wir ihre warme Stimme nicht mehr hören.
Sie kam aus der Fülle, und sie bewirtete alle, die kamen, mit ihrem grossen Wissen aus der amerikanischen Literatur, die ihr akademisches Fach war, aus der deutschen, die ihr durch den
Germanisten Lew, ihren Mann, zugewachsen war, aber immer wieder aus der neuen russischen, zu der sie als Essayistin beitrug.
Raissa Orlowa starb am Krebs in einer Kölner Klinik. In die Stadt am Rhein kam das Ehepaar Kopelew im November 1980. Heinrich Böll, den Lew Übersetzt hatte, war es nach jahrelangen Bemühungen deutscher Freunde gelungen, seine Einladung bei den Sowjetbehörden durchzusetzen. Zwei Monate später wurden die Kopelews ausgebürgert, wegen ihres «für einen sowjetischen Menschen unwürdigen Verhaltens».
Seitdem lebten sie, deutsche Staatsbürger geworden, in den Zentren der westeuropäischen Diskussion. Aber so tief sass das Heimweh, dass Raissa sich, als sie, schon schwerkrank, 1988 Moskau wiedersehen durfte, bei der Ankunft dort am falschen Schalter anstellte und
62jährig bei der Ausbürgerung, lebte sie sich schwer ein. Man kann es in den Büchern nachlesen, die sie in deutscher Sprache veröffentlicht hat, allesamt Dokumente grosser Anhänglichkeit an die russisch-jüdische Heimat und wacher Aufmerksamkeit für die neugewonnene Freiheit.
Sie blieb dabei: »Die Heimat ist dort, wo die Heimat ist.«
Die Freude an den »Privilegien«, die ihr im Westen zuwuchsen, war immer beschattet, weil sie nicht teilbar waren mit Kindern und Enkeln und Freunden daheim, kaum mitteilbar. Andererseits erfasste sie Ungeduld, wenn man hier auf ihre russischen Entdeckungen nicht rasch genug reagierte, oder wenn sie keinen Verleger fand, etwa für die philosophischen Schriften von Lidija Ginsburg über das Altern und den Tod.
Von dieser Schriftstellerin war schon die Rede, als ich die Kopelews vor mehr als zwanzig Jahren in ihrer schmalen Moskauer Wohnung besuchte. Dort machte sie ihre Küche zu einem Forum der freien Rede, trotz der Lauscher an und in der Wand. Hier, wo jeder sagen und schreiben kann, was er will, und niemand interessiert sich dafür, wurde Raissa Orlowas Gegenwart zu einem ordnenden Mittelpunkt. Sie hat in einem Sammelband, »Meine Mutter« (Econ- Verlag), ein Gedenkblatt an ihre Mama hinterlassen: »Teile, und dir wird leicht ums Herz …« Das war auch Raissas Maxime. Von ihrer Mutter hat sie geschrieben: »In Mama lebte der Geist des Hauses.«
In Raya lebte der Geist einer unsichtbaren Gemeinde, zu der so bedeutende Köpfe wie Alexander Herzen, Anna Achmatowa, Heinrich Böll, Sacharow und viele andere gehörten, im Osten und im Westen, heute und gestern. Lew Kopelew arbeitet in Wuppertal an einem Projekt deutschrussischer Fremdbilder. Raissa Orlowa hat viel dazu getan, Deutschen die Russen und Russen die Deutschen verständlicher zu machen. Ihren Freunden bleibt sie gegenwärtig.
Weitere Bücher von Raissa Orlowa-Kopelew: »Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Rückblicke aus fünf Jahrzehnten« (1985), »Die Türen öffnen sich langsam. Eine Moskauerin erlebt den Westen« (1984), »Wir lebten in Moskau« (zusammen mit Lew Kopelew, 1987).