Student und Journalist zu sein, wurde zur aufregenden Sache, als Hans von Eckardt im Sommer 1946 an die Universität zurückkehrte. Ein Schüler Alfred Webers aus dem Heidelberger Kreis in und nach dem Ersten Weltkrieg, zu dem auch Theodor Haubach, Carlo Mierendorff, Carl Zuckmayer, Henry Goverts gehörten, hatte er sich mühsam durch die 12 Nazijahre gebracht. Er hatte 1933 beim Betreten des Seminars das Radio abstellen lassen, weil die gesendete Hitlerrede die Autorität der Reichsregierung schädige. Natürlich wurde er sofort denunziert und ohne Bezüge entlassen.
Sein schwerer baltischer Akzent, die Spuren von Granatsplittern im Gesicht, die oft spöttischen Anreden korrespondierten mit seiner Hilfsbereitschaft und großer Personenkenntnis. Weil er sich wenig vorbereitete, kamen seine Studenten reichlich zu Wort. Am Ende brauchte er ihre Ansichten nur einzusammeln, um sie unergründlicher Skepsis auszuliefern. Er hat das Mißtrauen der Davongekommenen fruchtbar gemacht, auch das an ihn gerichtete. Wenn er »Dostojewski]« sagte und »Aljoscha, ich will jetzt nach Europa
reisen«, war Rußland im Raum, Machorka-Geruch. Von Dostojewskijs »Politischen Schriften« kam er über deren Übersetzer, Moeller van den Brück, zum eben verlassenen Dritten Reich. Er war außerordentlich, wie auch der »andere« Russe, Herr von Bubnoff, und der kleingewachsene Ferdinand Lion, der das nahe und doch so ferne Elsaß zu verstehen lehrte und die von ihm zeitweise redigierte Exilzeitschrift »Maß und Wert« (Zürich, 1937/ 40). Eckardts Bücher, »Freiheit und Würde des Menschen«, »Ivan der Schreckliche« — in der Nazizeit gedruckt —, »Das russische Christentum» und »Die Macht der Frau« konnten wohl der Fachkritik nicht standhalten. Eckardt hat die Wissenschaft improvisiert und wurde deshalb angefeindet. War aber das Vorläufige, das Provisorische nicht das A und O aller Wissenschaft?
1946 war man angesichts der Blamage einer politisch korrumpierten Professorenschaft weit von jener Wissenschaftsgläubigkeit entfernt, die sich dann in der Pax Americana rekonstituiert hat. Eckardt zitierte Bakunin. Jener hatte den Glauben an die Wissenschaft die höchste Stufe des Blödsinns genannt. Das leuchtete Studenten ein, die ihr Professor zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen schickte, damit sie die Männer sahen, denen sie gehorcht
hatten. Er brachte sie mit zivilen Emigranten zusammen, die heimzukehren niemand aufforderte, auch die Militärregierung nicht, und mit anderen in alliierten Uniformen.
Lauter improvisierte Existenzen, friedlose Friedensboten. Für ein paar Stunden Klaus Mann, der sich bald danach umbrachte. Boris Goldenberg, vor 1933 Führer der kommunistischen Studenten, später in Kuba, mußte in meiner Bude hausen, weil er illegal in der Stadt war. Die Amerikaner hatten ihm nicht erlaubt einzureisen. Aus der Kriegsgefangenschaft tauchte V.O. Stomps auf und suchte wieder junge literarische Talente, noch für einen fremden Verlag. »Alles Getrennte findet sich wieder…« Nun also doch!
Eckardt machte seine Studentinnen und Studenten zu engagierten Beobachtern ihrer Gesellschaft und hielt sie zugleich auf Distanz. Manche haben ihn später verleugnet, weil der unsichere Kantonist ihnen peinlich war. Die Restauration nach 1949 machte ihn unglücklich. Er sah die alten Dominanzen sich verfestigen. Sein Fach, die Soziologie, setzte in den 50er Jahren auf statistische und quasi-statistische Methoden, die keine Perspektiven brauchten und auch ohne sie vermarktbar waren. Das war durch einen Ozean, nicht nur von Papier, getrennt von den Utopisten und Revolutionären, die er
interpretierte, vom »Journal des Debats« im Keller seines Instituts, von Bettina von Arnims »Königsbuch«, Georg Simmeis »Mode«, von Martin Bubers »Gesellschaft« und was ihm sonst noch teuer war. Er nahm Abschied, indem er weitergab. Als ich ein Zeitungsfeuilleton über Klabund veröffentlicht hatte, ließ er mir seine Zustimmung schriftlich zukommen, obwohl wir in derselben Stadt waren. An meinem Nachruf auf Gandhi 1948 tadelte er den Vergleich mit dem Gekreuzigten. Dann brach er die Beziehung ab, als ich, 1950 wohlbestallter Redakteur, nicht sein Assistent werden wollte und dem ausdrücklich zu diesem Zweck Angereisten sagte, die Universitäten hätten keine Zukunft. »Oxford und Heidelberg werden immer eine Zukunft haben!« rief er aus und knallte die Tür hinter sich zu. Der heitere und pragmatische Heinz Markmann hat die Sache dann besser gemacht, als ich gekonnt hätte.
Ich hätte nicht so sprechen dürfen, denn ich wußte, daß er sich ebenso wenig Illusionen machte wie Alfred Weber, der sein kleines Colloquium in der Bachstraße vor der Hochschullaufbahn gewarnt hatte: Das Kooptationssystem verhindert, daß eine Fakultät sich positiv regeneriert, weil sie über ihr Niveau nicht hinaus kann. Dann kamen Beispiele von Karl Marx über Georg Simmel zu Wal-
ter Benjamin. Er hätte sie in die aktuellen Konflikte der Sozialwissenschaftler mit den Historikern verlängern können. Ihre Vertreter sahen Soziologie, Psychologie und Politik noch immer als »Hilfswissenschaften«, wie sich bei der Promotion Ossip Flechtheims durch Eckardt gezeigt hatte. Die Differenz führte dazu, daß Sozialwissenschaftler vier statt drei Fächer nachweisen mußten, wenn siepromovieren wollten. Mit solchen Fassadenreparaturen war aber die »Idee der Universität« nicht zu retten. Sie starb mit den alten Herren, die sie aus dem 19. Jahrhundert tradiert hatten. Freund Martinus Emge, mit dem ich bei Eckardt, Weber, Radbruch und Hellpach saß, hielt sich nicht an Webers Warnung und schrieb als Soziologie-Ordinarius in Bonn eine Saint-Simon-Monographie, die mir half, unsere eigene Zeit mit ihren Revolutionismen und Revisionismen besser zu verstehen. Vor allem fand ich den Satz des Revolutionsgrafen bestätigt, daß Institutionen nur so lange halten wie die Idee, die sie trägt.