Mit meiner Lektüre seines ersten deutschen Buches »Für eine Philosophie der Fotografie« bin ich 1983 das erste Mal auf Vilem Flusser gestoßen. Ich war fasziniert und schrieb in der Süddeutschen Zeitung, es gelte, ihn zu entdecken. Das glaube ich auch heute noch, selbst wenn ich inzwischen weiß, daß seine Ausstrahlung nicht meßbar, kaum beschreibbar. nur erlebbar war. Vor mir hatten ihn andere entdeckt: 1965 hatte ihn der »Merkur« über Guimaraes Rosa, J 974 über den Peronismus und 1978 über die »kodifizierte Welt« zu Wort kommen lassen. Ich wußte auch nicht, daß er in Sao Paulo ein gefragter Kolumnist war, als ich ihn 1984 zu einem Seminar über soziale und politische Aspekte von Kitsch einlud. Er kam, kannte von den Geladenen nur Abraham Moles und war im Nu der Provokateur des Gesprächs: Kitsch als Umweltverschmutzung, als Abfallstau, als Kreislaufstörung im Kulturprozeß. Das leuchtete den Bewohnern von Weiler im Allgäu unmittelbar ein, den Professoren aber weniger. Bei den nachfolgenden »Kornhausseminaren« war er fast immer dabei, und jedes Mal »rief er herbei«: Widerspruch, Abwehr, Zustimmung. Unvergessen bleibt mir der Zusammenstoß mit UIli Faktor-Flechtheim und Lew Kopelew nach seiner Behauptung, der Mensch brauche keine Heimat,
nur ein Dach über dem Kopf, und das könne er auch in Ausschwitz haben. Unvergessen auch die begütigende Handbewegung von Frau Edith Flusser, wenn er in der Diskussion aufbrauste.
Was uns einander näherbrachte, war die generationsbedingte Skepsis. Er wurde 1921 geboren, ich 1923. Beidehatten wir an der Last der Überlebenden zu tragen. Aber erst allmählich wurde mir klar, daß seine Gedankenspiele mit den Techniken der Abstraktion einen religiösen Hintergrund haben könnten. Der moderne, stilisierte Migrant sah in der Welt die Ewigkeit. Er wollte das Sein vor den Bildern retten, indem er ihnen die Abbildfunktion entzog. Die Computerwelt in die Idee zu integrieren, heißt aber, sie zum Bestandteil jener Idee zu machen, von der gesagt ist: »Du sollst dir nicht machen ein Bild, noch irgendein Gleichnis!« So hätte er nicht nur im »Vampyrotheutis infernalis« den ehrwürdigen Kampf des Monotheismus gegen den Bilderdienst fortgesetzt, und mein Insistieren auf der Pluralität der Ideen, Götter, Worte und Bilder wird ihm recht zuwider gewesen sein.
Wir können den Streit nicht mehr klären. Er ist im Frieden. und er hat nach jüdischem Glauben Anteil an der künftigen Welt. Vielleicht waren Flussers Provokationen seine Art, dem Frieden nachzujagen, wie es die Mischna dem Schüler Aarons befahl.
Harry Pross ist Journalist und Sozialwissenschaftler. Er war Dozent an der Hochschule für Gestalltung in Ulm und bis 1983 Ordinarius für Publizistik an der FU Berlin. Zahlreiche Buchveröffentlichungen zur Zeitgeschichte und Kommunikationstheorie.