Hans Kohn zum Gedächtnis FAZ 15.9.1971, S. 32
»Es ist einfach sinnlos, zu sagen, daß die Welt nicht bestehen kann, halb frei und halb unfrei. Die Welt war immer beiden feindlich, der Freiheit und der Sklaverei. Ermutigend ist, daß das Reich der Freiheit heute unendlich größer ist als es jemals war«. – Der Historiker Hans Kohn, von dem diese Sätze stammen, war ein Philosoph der relativierten Hoffnung. Dieser Standpunkt bestimmte seine aktuellen Aussagen wie seine Forschungsarbeit: »Die Vereinten Nationen sind natürlich kein Instrument, das den Frieden garantiert, eher stellen sie ein Mittel dar, die Koexistenz verschiedener Zivilisationen, Ideologien und Nationen trotz ihrer widerstreitenden Interessen zu erreichen. Der Traum einer geeinten, harmonischen Welt ist so unerreichbar wie die Träume von demokratischen oder kommunistischen Welten. Die Verschiedenheit der Menschen wird fortbestehen, und diese Verschiedenheit ist ein fruchtbarer und schöpferischer Faktor in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft… Jede utopische Hoffnung, sei sie auf religiösen Glauben, soziale Revolution oder wissenschaftlichen Fortschritt gegründet, jede solche Hoffnung kann nur in Verzweiflung und Niederlage enden.
Das absolut Gute ist so unerreichbar wie die vollkommene Harmonie des Familienlebens oder der nationalen oder übernationalen Gesellschaft. Die Menschen können nur hoffen, verwirrte Bedingungen zu bessern und sie daran zu hindern, in offene Konflikte und ins Verderben zu führen.«
Die Haltung, die aus diesen Aphorismen spricht, ist das Ergebnis einer weltweiten Aufmerksamkeit, wie sie kaum von einem Historiker derselben Generation verlangt worden ist. Hans Kohn wurde 1891 in Prag geboren; er promovierte an der Karls-Universität, und die »gelassen-heiteren Jahre um die Jahrhundertwende« haben ihm, wie den Prager Freunden, Zuversicht mitgegeben.
Als russischer Gefangener erlebte Hans Kohn die Revolution von 1917 in Sibirien. Über Wladiwostock kehrte er nach Europa zurück. Lebte in London, Paris und Jerusalem. Von dort berichtete er für die Neue Zürcher Zeitung und die Frankfurter Zeitung, zugleich. Der Kulturzionismus, dem er sich seit Prager Schülertagen zurechnete, wollte keinen jüdischen Nationalstaat, sondern eine arabisch-jüdische »Schweiz« in Palästina schaffen, frei von nationalistischer Rivalität. Kohns Buch über die »Geschichte der nationalen Bewegung im Orient«, 1928, war vielleicht das erste einer inzwischen unüberschaubar gewordenen
Bibliothek zur systematischen Erforschung der Entwicklungsländer. Es war aus der Beschäftigung mit dem »Nationalismus im Judentum«, 1922, erwachsen und mit dem Lebensfreund «Robert Weltsch aus dem gemeinsamen Verständnis für »Zionistische Politik«, 1927, erarbeitet.
1931 siedelte Hans Kohn nach Amerika um, wo er seine Nationalismus-Studien ihrem Höhepunkt zuführte mit dem großen Buch über die »Idee des Nationalismus. Seine Ursprünge und seine Hintergründe«, .1944. Als zeitweiliger Präsident der Internationalen Gesellschaft für Ideengeschichte und als unermüdlicher Arbeiter in der Nationalismusforschung hat er in diesen vier Jahrzehnten als akademischer Lehrer und als historischer Publizist das Wesen des Nationalismus erhellt wie kein anderer. Die Schweiz, Amerika, der Panslawismus, der Nationalismus in der Sowjetunion waren Gegenstände seiner Forschung, die in viele Sprachen übersetzt worden ist. »Deutsche Leser«, schreibt Arnold Toynbee, sollten das Werk eines Schriftstellers willkommen heißen, dessen Muttersprache deutsch ist und der von Jugend auf durch deutsche Dichtung und deutsches Denken tief beeinflußt und gebildet wurde. Hans Kohn war in der Tat einer der unsrigen, obschon er nie lange in Deutschland gelebt hat.
Mit der alten Generation hatte er die Erfahrung gemeinsam. Mit der jungen verbindet ihn das Interesse an der moralisch-politischen Weltrevolution, in der wir leben.
Hans Kohn starb in Philadelphia, wenige Monate vor Vollendung seines 80. Lebensjahres.