„1945 war nicht die Stunde Null”: Dieser Satz aus den “Memoiren eines Inländers”, der Selberlebensbeschreibung von Harry Pross, der die Nachkriegserfahrung der um 1925 Geborenen zuspitzend zusammenfasst, deutet zugleich auf die besondere Prägung der langjährigen Freundschaft des Autors mit dem legendären Verleger und Schriftsteller Viktor Otto (‚Vauo‘) Stomps hin. Als schwer kriegsbeschädigter junger Student und Journalist begegnete Pross 1946 in Heidelberg dem „abgehalfterte(n) Artilleriekommandant(en)“ Stomps, der „wieder junge literarische Talente“ suchte. Der eine Generation Ältere hatte bereits 1926 in Berlin einen Verlag gegründet – die „Rabenpresse“ -, in dem er neben anderen jungen, noch unbekannten Autoren spätere Ikonen der modernen Literatur wie Paul Zech und Max Hermann-Neiße druckte, Federico
García Lorca in Deutschland einführte und 1934 Gertrud Kolmars letzten Gedichtband „Preußische Wappen“ verlegte. Diese Existenzform der „Literatur als Beruf“ bezeichnet Harry Pross in Anlehnung an Max Webers berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ als ein „unbequemes Dasein, das nicht zum Glück verhilft“, und insofern dem Beruf des Politikers ähnlich ist– beide handeln im Bewusstsein der Vergeblichkeit. Im Berlin der Zwanziger Jahre befreite sich Pross zufolge das, was das „Ancien Régime an Gutem und Bösem unterdrückt hatte. Die deutschen Schriftsteller begriffen, was man ihren öffentlichen Auftrag genannt hatte.“ Während in diesem „glückliche[n] Augenblick“ im „weimarischen Berlin“ ein junger Mann aus bürgerlichem Hause – wie Stomps es war – mehr gebildet wurde als durch die Universitäten, bildete sich zugleich mit seiner Unterstützung eine „junge Dichtung“ aus, deren „Vergeblichkeit“ Pross folgendermaßen beschreibt: „Es war wohl so, daß sich in den letzten Jahren der Republik diese Literatur mehr und mehr in sich barg. […], keine Literatur des Rückzuges, eher eine, die blieb, was sie war und es versäumte, sich dem stürzenden Gebäude entgegenzuwerfen, wie das, vermöge ihrer Autorität, die Großen der Zeit taten, Thomas und Heinrich Mann, Fritz von Unruh.“ So gelingt es Stomps, seinen „Experimentierverlag“ – der mit seinen Lese-Abenden zur festen
Einrichtung in Berlin wird – bis 1936 zu halten, dann wird „kopfschüttelnd“ der „Völkische Beobachter“ auf die „unzeitgemäße Abseitigkeit“ des Verlagsprogramms in seinem öffentlichen Auftreten aufmerksam. Ein Jahr später muss der Verlag schließen.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Stomps, der am Beruf des Literaten lebenslang festhielt, zu jenen „improvisierten Existenzen, friedlosen Friedensboten“, die für die durch eine „Jugendamnestie“ entlasteten Angehörigen der jungen Generation von Kriegsteilnehmern zu Leitfiguren und Gesprächspartnern wurden: im als gemeinsame Aufgabe empfundenen schwierigen Unterfangen, aus Krieg und Diktatur mit ihren Ritualen und Sprachregeln herauszukommen und eine zivile Gesellschaft zu bilden. Die deutschen Gelehrten Alfred Weber, Gustav Radbruch, Hans von Eckardt gaben an der Heidelberger Universität dem Denken über Politik, Recht und Gerechtigkeit neue Nahrung, und Albert Camus vermittelte die Idee einer Freiheit jenseits ideologischer Selbsttäuschung und umtriebiger Verdrängung: „Frei sprechen zu lernen gegen den inneren wie den äußeren Zwang der Umstände, das war die Aufgabe.“ Dazu gehörte es, eine literarische Sprache zu finden, die sich, eingedenk ihrer eigenen Anfälligkeit
für das Getöse und die Inhumanität der Nazizeit, zwischen der Erinnerung an die Avantgarde der Zwanziger Jahre, der Klassizität des 19. Jahrhunderts und dem Anspruch auf Geltung in der aktuellen europäischen Kultur nur zögernd entwickelte. Was Stomps hier für den jungen Harry Pross bewirken konnte, beschreibt dieser mit einem Hinweis auf dessen wieder aufgenommene Funktion im Literaturbetrieb in einem späteren Aperçu: „Was Polgar, Tucholsky, Kästner als Feuilletonisten geleistet haben, tat Stomps als Verleger: Er reduzierte ‚die großen Zeiten‘ vermittels der kleinen Form. Ein Understatement, dem der Schalk im Nacken saß.“
Doch die Mühsal des literarischen Berufs erwies sich auch in seinen konkreten, materiellen Voraussetzungen: Das Verlagswesen der Besatzungszeit war von den Vorgaben und Einschränkungen der Kulturpolitik der Alliierten geprägt. So verlor Stomps seine erste Arbeitsstelle nach dem Krieg als Lektor schon 1947, weil der Verlag aufgeben musste: „Fehler, die der Siegel-Verlag […] beging, haben zu diesem Verbot geführt, das sich in erster Linie auf das Verbot eines Kinderbuches berief, in dem Märchen aus der Dieterichschen Sammlung (1851) enthalten waren, unter denen sich eines befand, in dem ein Jude eine Prinzessin zu vergiften trachtet.“
Auch die Zuteilung von Papier machte Politik, sie war häufig – abgesehen von begründeten politischen Bedenken – abhängig von Kenntnis, Geschmack und weltanschaulichem Programm der jeweiligen Zensurbehörde. Doch Stomps war mit dem festen Vorsatz aus der Kriegsgefangenschaft gekommen, wieder einen Verlag zu gründen. Bad Nauheim, die erste Station, erschien ihm hierfür nicht geeignet („Atmosphäre eines Badeortes“). Also ging er auf Einladung seines Freundes, des Alfred-Weber-Schülers und Professors Hans von Eckardt, nach Heidelberg, um an der Universität „über Verlagsprobleme“ zu sprechen, und in der eigenen Wohnung eine Druckerei einzurichten. Seine Tätigkeit als Verlagslektor verhalf ihm zu Editionserfahrungen und Beziehungen und verschaffte ihm die Möglichkeit eigener Veröffentlichungen. Für die Gründung eines eigenen Verlages erschien Frankfurt geeignet: Sein Fundament bildete dort zunächst eine Druckmaschine, mit der er zusammen mit seinem zeitweiligen Geschäftspartner Helmut Knaupp bis zur Lizenzerteilung als Verlag Akzidenzdruck (Werbebroschüren und andere ‚kleine‘ Gebrauchsdrucksachen) betrieb. 1949 schließlich gelingt die Verlagsgründung – die Verwendung alter Druckmaschinen bleibt ein Prinzip des eigenen Selbstverständnisses, das sich bereits in den Zwanziger Jahren herausgebildet hatte:
„Der Beginn meiner ‚Rabenpresse‘ war ein Protest gegen das, was der Motor schafft: die Riesenauflage, die das Abseitige ausschließt. ‚Mit einer Handpresse begann es‘, sage ich , [Hans/Jean] Gebser und ich hatten diese Maschine gekauft und verstanden nicht damit umzugehen. Kein vernünftiger Druck kam zustande. Wir trösteten uns mit einer Flasche – und mit jedem Schnaps mehr kam uns ihr Umriss wie ein gespenstischer Rabe vor – der Handhebel wie ein zum Schlag ausholender Flügel.“
Die Handpresse als Protest gegen die Kalkulation als Antriebsriemen literarischer Produktion – in diesem Bild verbinden sich die Motive für Stomps‘ Arbeit von Anfang an: Literatur hat Anspruch auf eine angemessene ästhetische Form, die durch die handwerklichen Fähigkeiten des Dichters und autodidaktisch gelernten Layouters Stomps (der seinen Verlag unter anderem durch eine entsprechende „Sklaven“-Tätigkeit für die Büchergilde Gutenberg finanzierte) garantiert war – jedes Buch sollte zugleich lesbar sein wie in Druck, Bindung, Ausstattung unverwechselbar als ein gutes Handwerksstück.
Stomps‘ Verachtung traf daher das Prinzip des Nur-Ökonomischen in den modernen Großverlagen. In der Weimarer Republik hatte er sich an den Ideen des Kleinverlegers „Munkepunke“
orientiert, der sich besonders durch seine „Hebammendienste“ für den frühen Expressionismus ausgezeichnet hatte. Neue Literatur zu „entbinden“ hatte auch Stomps sich vorgenommen, und dieses Vorhaben führte er in seinen verschiedenen Verlagsprojekten konsequent durch: Autoren fanden in ihm einen Verleger, der das Abseitige ebenso schätzte wie das zu Unrecht Vergessene und das Experiment. So veröffenrlichte die „Rabenpresse“ neben vielem Anderen frühe Gedichte von Gottfried Benn ebenso wie Szenen aus „Mann ist Mann“ von Bertolt Brecht. Diese wurden in kleinen Auflagen gedruckt und ohne Aussicht auf Gewinn verkauft.
Stomps erscheint in seiner Aversion gegen moderne Technik, Massenmedien, Verkehrstechnik und Selbstvermarktung hier als ein Gegentyp zu Brecht, der die Kommunikationsmöglichkeiten des 20. Jahrhunderts zu nutzen und zu feiern verstand. Als leibhaftigen Gegenentwurf zum Verleger Stomps und seinem mit den gleichen Grundsätzen 1949 in Frankfurt gegründeten Nachfolgeverlag „Eremiten-Presse“ empfand Harry Pross indes den „‘blonden Riesen aus Bremen‘“, Ernst Rowohlt, der zur gleichen Zeit begonnen hatte, und dessen „gewaltige(r)“ Verlagsstand sich auf einer Frankfurter Buchmesse neben Stomps‘ Stand fand: „Den Verlagsstand hatte ich bezahlt, denn VAUO hatte die 300 DM nicht. Ich hatte sie eigentlich auch nicht […]“.
Da Stomps „eine Vorliebe für Hochformate und teure Papiere“ hatte und „Texte und dafür Illustratoren unter den Gesichtspunkten des Gesamtkunstwerks“ suchte, zugleich aber der Produktionsprozess dafür sorgte, dass die „Einzelexemplare höchst ungleich ausfielen“, fiel es schwer, Buchhändler für die schönen und eigenartigen Bücher zu begeistern – jedoch, so Stomps: „Bücher soll man nicht verkaufen, denn dann hat man sie nicht mehr.“ Inbegriff seiner unbeugsamen Selbstausbeutung war „Schloss Sanssouris“, der Schuppen am Bahndamm in der Nähe von Frankfurt, der Stomps jahrelang als Druck- und Verlagsort und zugleich als Raum für ein Leben am Rande des Existenzminimums diente. Hier fand er eine Lebensform, die keineswegs als Bohème zu missverstehen war: „Manche haben ihn in späteren Jahren, als er sein Äußeres betont vernachlässigte, als Clown bezeichnet und den Saufkumpan in ihm geschätzt. Heinz Friedrich hat den Irrtum richtig gestellt, denn Vauo war es, der sein Publikum komisch fand und sinnierte, was wohl daran sei, an den Besuchern und Adepten, die zu ihm kamen.“
Dennoch war er ein geschätzter Gastgeber, der – nach Heinz Friedrich – das Unordentliche liebte und brauchte, aber für seine
Freunde und im Umgang mit Geld (was hieß: bei der Rückzahlung von Schulden) von geradezu preußischer Korrektheit war. Hier versammelte er junge, häufig noch ungedruckte Autoren (seltener Autorinnen) und Gestalter, deren Texte und Bilder er veröffentlichte und denen er zufrieden hinterher sah, wenn sie von größeren Verlagen „weggekauft“ wurden.
Seit Mitte der 1950er Jahre vertieft sich die zunächst lockere Bekanntschaft zwischen Stomps und Harry Pross. Bereits 1954 unterstützt dieser den Verlag finanziell. Um ihm zu regelmäßigen Einnahmen zu verhelfen, gründet Pross im Januar den „Bogen-Verlag“ (Eintrag ins Melderegister Wilhelmshaven: „Buchverlag und Beratungsstelle für Werbeangelegenheiten“). Über dieses „Outsourcing“ gelingt es, zwei Aufträge für Werbebüchlein zu akquirieren – in denen kleine literarische Texte und eigens angefertigte Grafiken dem ästhetischen Anspruch der Macher standhielten – und die „Eremiten-Presse“ zunächst vom ökonomischen Zwang zum Kompromiss freizuhalten. Harry Pross wird zum Freund, Au-
tor (des Essay-Bandes „Der Osten und die Welt. Ein Versuch anhand sowjetischer Karikaturen.“ Eremiten-Presse: Frankfurt a. Main, 1952), Herausgeber zweier Gedicht-Bände („Georg Weerth, Die ersten Gedichte der Arbeiterbewegung mit einem Essay zu Georg Weerth und Friedrich Engels“. Stierstadt i. Ts.: Eremiten-Presse, 1956, sowie: „Jesse Thor, Dreizehn Sonette“. In der Reihe Veriloquium, Nr. 1. Stierstadt i. Ts.: Eremiten-Presse, 1958), Mitherausgeber der „Festschrift“ „guten morgen vauo. Ein buch für den weißen raben v. o. stomps“. (Frankfurt a. Main: Europäische Verlagsanstalt, 1962). Er war für den Verlag literarische Agentur, vermittelte andere Beiträger – wie seine damalige Frau Heddy Weerth, die einen Prosaband mit Übersetzungen sowjetischer Literatur beisteuerte („Vom rasenden Kalafat und anderen Gestalten der sowjetischen Literatur“, 1952) – und beteiligte sich an den Diskussionen über das Programm und die ‚Linie‘ des Verlags. Vor allem aber war er als Geschäftsführer der Eremiten-Presse ein Geschäftspartner, der den Verlag jahrelang finanziell am Leben erhielt.
Bei der Lektüre des erhalten gebliebenen Briefwechsels zwischen Stomps und Harry Pross wird deutlich, dass dessen Rolle eine andere war, als es die ‚offizielle‘ Lesart dieser Verbindung nahelegt. Einem großbürgerlich-süddeutschen Milieu entstammend, verbindet er in seinem kulturellen Habitus zurückhaltende Umgangsformen, scharfe politische Analyse und Offenheit für ästhetische Lebensformen mit einer grundsätzlichen Einsicht in die Unausweichlichkeit des Ökonomischen. Hermann Lenz drückt dies in der Festschrift zum 60. Geburtstag von Harry Pross – in einer ironischen Rückschau auf die Stuttgarter Max Bense-Schule – folgendermaßen aus: „Harry Pross wirkte in einer solchen Umwelt sozusagen abdämpfend und mildernd. Mir schien’s, als fände er gewisse Herrschaften zwar ein bißchen kurios, freue sich aber an ihren bizarren Lebensäußerungen. Jedenfalls wirkte er auf mich gentlemanlike, also englisch. Außerdem hatte er, zumindest äußerlich, einen Anflug von ästhetischer Existenz, fast im Sinne von Stefan George. Zuweilen zog er seine Brauen hoch und machte die blauen Augen groß und weit. Dann kam’s mir vor, als ob ich mir eine Meinung habe entschlüpfen lassen, die er – gelinde gesagt – nicht einordnen konnte.“ Und zu einer Begegnung in Stierstadt:
„An die Stelle rasierter Gesichter unter kurz geschorenem Haar, wie sie um 1960 üblich waren, traten lang-mähnige und bärtige Genossen, mit denen sich Harry Pross ebenso verstand wie mit irgendwelchen Bürgerlichen, also zum Beispiel mit mir. Wir sahen uns in Stierstadt beim siebzigsten Geburtstag von Victor Otto Stomps, dem Verleger der Eremitenpresse, zu dem Harry Pross einmal sagte: ‚Du bist ein Solipsist.‘ Darauf fragte mich Stomps: ‚Weißt du, was das ist?‘, und ich erwiderte: ‚Dasselbe wie ich.‘ – ‚Na, dann ist’s gut‘, bemerkte Stomps.“
In dieser Nicht-Übereinstimmung mit dem künstlerisch-bohemienhaften Milieu im Umkreis von Stomps erscheint Harry Pross den Akteuren als nicht recht kommensurabel, eine Randfigur, die das sich selbst erhaltende genialische Treiben in „Sanssouris“ – Stomps‘ Verlags- und Wohnort – auf unangenehme Weise an die Forderungen der Ökonomie erinnerte. In der Realität aber war sein Wirken alles andere als randständig: So betreute er gemeinsam mit seiner Frau Heddy Pross-Weerth die Buchhaltung des Verlags, er gab in den ersten Jahren von seinem eigenen kargen Redakteursgehalt einen namhaften Anteil zu dessen Unterhalt, er finanzierte
die von ihm herausgegebene, hochklassige literarische Reihe „Veroloquium“. Ebenso half er dem ‚hilflosen‘ Stomps, dessen unwilligen (das heißt komplett untätigen) frühen Partner Helmut Knaupp aus dem Verlag zu drängen, und schließlich sorgte er dafür, dass Stomps bei der Übernahme des Verlags durch seine Nachfolger nicht übervorteilt wurde. Ursprünglich hatte Stomps „sich entschlossen, zwei junge Leute in den Verlag aufzunehmen, die das Unternehmen eines Tages weiterführen sollen, weil sein Sohn sich nicht dafür interessiert“ – so Harry Pross im Juli 1966 an den Steuerberater Otto Bruchmann, der für den Verlag arbeitete . Die Auseinandersetzungen des Geschäftsführers Harry Pross mit Dieter Hülsmanns und Fridolin Reske um die Majorität in Programmentscheidungen und die rigide Handhabung von Stomps‘ Stierstädter Telefonkosten zeigen jedoch exemplarisch, wie zentral seine tätige Loyalität und Autorität für den Verlag waren. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass damit ein – bislang weitgehend unbekanntes – Kapitel bundesdeutscher Literatur- und Verlagsgeschichte mitgeschrieben wurde. Dabei könnte eine erste Frage dem eigentlichen Ursprung dieser jahrzehntelangen Loyalität gelten, die erst mit der Grabrede endete, die Harry Pross im Mai 1970 für V.O. Stomps hielt.
In vielen Texten hat Harry Pross deutlich gemacht, dass sein Nachdenken über politische Kultur ein Konzept von ‚Generation‘ umfasst, das sich für seine besondere Beziehung zu Stomps fruchtbar machen lässt. Zu dessen Charakterzügen zählt er erstens „die Auflehnung gegen Zwänge, die er letztlich auf das andere Geschlecht zurückführte.“ Und zweitens: „diese Hilfsbereitschaft, über die eigenen Mittel und Fähigkeiten hinaus. Sie wurde schamlos ausgenutzt. Vauo Stomps hat, wie andere sensible Knaben seiner Generation, diese Hilfsbereitschaft zuerst in der Jugendgruppe bewährt, im Steglitzer Wandervogel. Er hat den Wandervogel, wie Ernst Blüher, als erotisches Phänomen erlebt. Vom Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 war es dann kein langer Weg zum Kriegsleutnant in der absoluten Männergesellschaft der Armee mit ihren ideologischen Überfrachtungen links und rechts. Als das Ende sich abzeichnete, 1917 mit der russischen Februarrevolution und dem Kriegseintritt der USA, war Stomps noch nicht zwanzig. In diesem Alter machen ein paar Jahre mehr oder weniger subjektiver Lebensgeschichte für die Einschätzung der historischen Daten viel aus.
Heranwachsende deuten die sozialen Ordnungen noch egozentrisch. Sie machen für ihre subjektiven Schwierigkeiten leichthin das System verantwortlich. Nicht die Summe der Erfahrungen bestimmt die Reflexionsfähigkeit. Die Reflexion hängt vielmehr von der Fähigkeit ab, andere Positionen nachzuvollziehen. […] Vauo Stomps verließ, wenn ich seine Erzählungen aus jenen Tagen recht erinnere, den Ersten Weltkrieg politisch unentschieden, aber entschlossen zur Literatur. “ Die kulturelle Sozialisation (‚Enkulturation‘) in den Jugendbewegungen der vorletzten Jahrhundertwende, die auch Harry Pross in ihren letzten Ausprägungen ab Mitte der 1930er Jahre noch prägen, und das jugendliche Kriegserlebnis sind es also, in denen er – neben der antimodernistischen Suche nach einer angemessenen literarischen Sprache und dem Widerstand gegen die Vergesslichkeit der (politischen, wirtschaftlichen, kulturellen) Eliten der 50er und 60er Jahre – Kontinuitäten aufspürt, die ihn trotz der Generationenkluft mit Stomps verbinden.
Karl Mannheims berühmt gewordener Aufsatz „Das Problem der Generationen“ (1928) kann dazu einige Hinweise geben. Während die „verwandte Generationslagerung nur etwas Potentielles
ist“, so differenziert Mannheim, „konstituiert sich ein Generationszusammenhang durch eine Partizipation der derselben Generationslagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gestalten. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft können dann die besonderen Generationseinheiten entstehen“. Dabei handele es sich um eine verwandte Art des Mitschwingens und Gestaltens, die in ihrer konkreten Ausdrucksform durchaus unterschiedlich, sogar gegensätzlich sein könne, die aber auf einer gemeinsamen Grundstimmung basiere. Für Harry Pross ist dieser Generationenzusammenhang immer wieder aufzufinden, so in der lebenslangen Freundschaft mit anderen Studenten aus dem Kreis der Heidelberger Zeit, oder in einem weiteren Sinne etwa bei Hans und Sophie Scholl, die – zwei bzw. vier Jahre älter als er selbst – er in ihrem Widerstand und Anspruch auf historische Wirksamkeit als Angehörige eines Generationenzusammenhangs reflektiert: „Die Namen der Geschwister Scholl stehen für den aktiven Widerstand und die passive Renitenz einer Generation, deren Jugend durch Gesetz ‚Staatsjugend‘ war.
Einer, der dazugehörte, Wolfgang Borchert, sagte 1946 von ihr, sie sei eine Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied.“ In der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe „Freiheit“ und „Ehre“ und der Forderung nach „freier Selbstbestimmung“ erkennt Harry Pross die Generationenkluft zwischen der „Münchner Empörung“ gegen die Tyrannen und dem „Aufbegehren der neuen Jugend“ (von 1968).
Näher als diese steht ihm der 1897 geborene V.O.Stomps, der aus seinen Generationserfahrungen radikale Konsequenzen zieht. Anders als bei den Studenten von 1968, über die Harry Pross sagt: „Protestierende gehen direkt in Funktionen über, die notwendig persönliche Unfreiheit bedeuten“, steht für Stomps nach dem „Überleben an der Front“ als Widerstandsakt ein anarchisches Sich-Entziehen aus allen gesellschaftlichen Zwängen und das Festhalten an spezifischen ästhetischen und politischen Normen und Lebensformen: „Als Vauo Stomps 1949 in die ‚Eremiten-Presse‘ von Helmut Knaupp und Ferdinand Müller seine Erfahrung einbrachte, war die literarische Euphorie des Nachkriegs verflogen.
Die Deutschen, von jeher ein Volk von Kaufleuten, wie sie Michael Bakunin genannt hat, entwickelten diese Seite ihres Wesens in staunenswerter Folgerichtigkeit: Wie bauten sie ihre Städte wieder auf und überzogen sie die Dörfer mit Asphalt! Bald glich jeder Stadtrand dem von Detroit, Michigan. Wie hilfreich waren sie, einander die Beine zu stellen! Wie wahrhaftig repräsentierte der trickreiche Greis an der Spitze das Ganze! Und wie sorgten die Eltern, daß die Kinder nicht in die Sünden der Väter zurückfallen mochten! Sie erzählten ihnen nichts davon. Ihre Verlage bauten die Deutschen aus zu Buchfabriken, und, wie schon einmal Jacob Burckhardt 1870 bemerkte, sie zerstörten mit Lust alle kleinen Kreise, in denen der Geist warm saß, zuletzt sogar die Fakultäten. Kein Zweifel: eine große Zeit.“
Stomps ist also, so gesehen, über die Generationengrenze hinweg als der bis zur totalen Armut Unangepasste einer, der die Anarchie lebte: als Abwesenheit von Herrschaft des Menschen über den Menschen im Sinne von Harry Pross.