In einem Interview der christlichen Zeitschrift aufbruch (7/1997) erzählt Aron Ronald Bodenheimer ein eigenes Erlebnis: »Ich gehe durch die Bahnhofstrasse. Da sehe ich einen Mann kommen, der mir seit längerem ein Honorar schuldet. Was tue ich – nicht er? Ich benehme mich unfrei und gehe auf die andere Strassenseite. Es wäre mir peinlich gewesen, diesen Mann zu begrüssen. Ich kann das auch in meiner psychoanalytischen Praxis beobachten. Ein Schuldgeständnis fuhrt dazu, dass sich der Beschuldigte früher oder später entschuldigen muss. Das bewirkt aber wenig, ausser dass es den sich Entschuldigenden um seinen Stolz bringt. Und es ist vielleicht etwas spezifisches Christliches – ich sage das ohne die mindeste anklägerische Nuance -, dass jene, denen gegenüber man schuldig geworden ist, als die Besseren angesehen werden. Und das hat fiir die Juden katastrophale Folgen.
Denn jene, die die Schuldlosen verteidigen, schauen dann besonders darauf, wo sich die Schuldlosen selbst schuldig machen. Das sieht man jetzt an der Reaktion der Weltöffentlichkeit auf Juden, die sich in Israel schuldig machen. Aber es stimmt eben nicht, dass jene, denen gegenüber man schuldig geworden ist, die besseren Menschen sind. Das gilt nicht nur für die Juden, es gilt nur die Palästinenser, es gilt rundum. Weshalb sollten sie auch die Besseren sein?«
Illustrationen wie diese Anekdote sollen dem Nachdenken auf die Sprünge helfen: Bilder sind Spuren gesellschaftlicher Abläufe. Daran hat sich nichts geändert, seitdem die Menschen Jäger waren. Spurenlesen ist die Kunst. Bodenheimers Spur führt ins Innere der Seele; aber das Bild dazu bleibt räumlich: Aus dem Weg gehen, Kurs verändern, weil die Begegnung nicht geduldet werden kann oder soll, aus welchen Gründen auch immer. Darüber muss die Sprache Auskunft geben. Das Bild kann nicht sprechen. Zum Spurenlesen brauchen wir beide Kommunikationsmittel: Bild und Sprache. Menschen können aus ganz anderen Gründen einander meiden. Weil wir keine Bäume sind, obwohl die Metaphern von Wurzel, Stamm, Verzweigung, Frucht und fallenden Blättern sich grösster Beliebtheit erfreuen, müssen wir beweglich sein und Prioritäten setzen Schritt rur Schritt, fort vom Lindenbaum:
» … Nun bin ich manche Stunde/ Entfernt von jenem Ort,! Und immer hör‘ ich’s rauschen:/ Du fändest Ruhe dort!« Da hilft auch das in Unkenntnis ökologischer Aufklärung in die Rinde geschnittene liebe Wort nichts. Der Diskurs geht weiter, nicht ohne Bewegungsapparat, vorwärts und rückwärts und über die Jahrtausende im Kreise!
Auf die Gegenfrage des Interviewers, Hubert Zurkinden, »Was wäre denn die Alternative zu Schuldbekenntnis?« antwortet Bodenheimer: »eine redliche, unpolemische Verständigung über die wesenhafte Verschiedenheit zwischen Judentum und Christentum! Wir müssen einsehen, dass wir in unserer Verschiedenartigkeit Bestand haben und also nicht um die Seligkeit und den Besitz der einzigen Wahrheit konkurrieren müssen. Solange es nur eine Wahrheit geben darf, wird sich das nie bessern.«
Damit hat er wohl recht; es wird den Konkurrenten um »eine Wahrheit« des auf jüdische Fundamente bauenden Monotheismus von Juden, Christen und Muslimen nicht so leicht einfallen, dass es viele Wahrheiten gibt. Schon Lessing ist mit seiner Parabel von »Nathan« gegen den Monopolanspruch nicht aufgekommen, und da Konkurrenz nicht von Beginn da ist, sondern erst in der Beengung sich bildet, wird man bei weltweit 17 Millionen Juden,
einer Milliarde Muslimen und 1,7 Milliarden Christen eher damit zu rechnen haben, dass deren Konkurrenz sich verschärft, ganz abgesehen von der Milliarde, die ihre Wahrheiten ohne Religionen sucht. Das Interview endet: »Auf Ihre Frage zum Verhältnis Judentum-Christentum wäre vielleicht diese Lösung ein Ansatz: Streit statt Hass, und das Wissen und Anerkennen, dass eine Verbrüderung nicht möglich und auch nicht nötig ist, und dass das Geltenlassen der Differenz kreativ herauskommt.«
Das Ende des Interviews mit der Alternative »Streit statt Hass« erinnert freilich an die Peinlichkeit der Begegnung auf der Bahnhofstrasse und das Ausdemwegegehen. Haben sich die religiösen Kollektive nicht ähnlich verhalten wie der Arzt, der seinem Schuldner und sich die Peinlichkeit des Streites ersparen will? Steckt dahinter nicht die simple Erfahrung, dass aus Streit leicht Schuld wird – sei sie metaphysisch, physisch oder, wie im ausgeflippten Kapitalismus unserer Tage, wo monetäre Schuldenberge sich anhäufen, von der Weltbank bis in die psychologische Schuldenberatung genussverführter Konsumenten?
Als die kleine Gruppe der »Bekennenden Kirche« in Deutschland im September 1945 ihr Schuldbekenntnis ablegte, gedrängt vom militanten Friedenspastor Martin Niemöller und gestützt auf die Theologie des Baslers Karl Barth, hörten die Deutschen darüber hinweg, wie sie in den Jahren des grossen Mordes an »Fremdvölkischen« und »Fremdrassigen« sich abgewendet hatten, wenn sie Opfern der Verfolgung begegneten. Umgekehrt gingen die zu recht oder zu umecht Beschuldigten ihren Anklägern aus dem Weg, wie überall in Kriegen die Ansässigen ihren Besatzern ausweichen. Warum, so polemisierte Blaise Pascal gegen Montaigne, soll ich »einem Mann in Brokat gekleidet, den sieben oder acht Lakaien begleiten, keine Achtung erweisen? Er wird mich schlagen lassen, wenn ich ihn nicht grüsse; das Kleid ist eine Macht« (Pensees, 315) und weiter: Wer hat den Vortritt? Wer hat vor dem anderen zurückzutreten? »Der weniger Tüchtige? Aber ich bin genau so tüchtig wie er. Man wird sich schlagen müssen. Wenn er aber vier Lakaien hat und ich nur einen, dann habe ich zurückzutreten und ich wäre ein Tor, wenn ich murrte. Dadurch bleiben wir friedlich miteinander, und das ist das Wichtigste von allem« (319).
Ist es das? Die Peinlichkeit des Ausweichens hilft, die Pein des Streits zu vermeiden, indem sie Differenzen akzeptiert.
Der Psychoanalytiker auf der Bahnhofstrasse (20. Jh.) und das Zurückweichen des Religionsphilosophen (17. Jh.) vor der befürchteten brachialen Gewalt – beide wollen Unlust vermeiden. Deshalb riskieren sie keinen Streit, von dem man nicht wissen kann, wie er ausgeht. Man wählt das kleinere Übel der Unfreiheit. Darin hat sich in den drei Jahrhunderten zwischen den bei den Begegnungen nichts geändert. Pascal weicht zurück vor der symbolischen Gewalt des Brokats und den Lakaien seines Trägers. Bodenheimers Schuldner wird keine Bodyguards gehabt haben, vielleicht war aber sein Kleid auch eine Macht, erkennbar als abgewetzter Anzug eines Minderbemittelten? Das wäre nur die Anekdote auch unwichtig, weil sie die Steigerung des Schuldgefühls illustrieren sollte, das, soziale Differenzen hin oder her, allemal den Lustgewinn schmälert. Beider Publizisten Ausweichen aber bestätigt Toleranz als einen räumlichen Begriff.
Man tut gut daran, einander nicht zu nahe auf den Leib zu rücken, schon gar nicht mit Blicken, die als Signale unter die Haut gehen und Konsonanz oder Dissonanz provozieren. Der vorgeschlagene Streit sollte besser auf Distanz geführt werden. Hass entsteht aus körperlicher Nähe bei Distanzverlusten. Wie soll da eine »redliche, unpolemische Verständigung« erfolgen?
«Das Gespräch unter vier Augen« gilt als erprobtes Rezept. Das mag zutreffen, wenn die Teilhaber nicht aneinander vorbeireden, sich leiden können, oder »sich riechen«, wie man im Badischen sagt. Professor Bodenheimer hat das in einem grundlegenden Essay zur Publizistik, »Verstehen heisst antworten«, psychoanalytisch begründet. Wie aber, wenn sie aller erfolgsorientierten Inszenierung zuwider, nicht »mit-ein-ander aus-kommen« oder gar sich täuschen über ihre eigene Rolle, die des/der anderen, mit oder ohne Vorsatz, in zu grosser Ab- oder Zuneiung? »Frei von der Leber weg« redet der oder die eine, fremdbestimmt durch übergeordnete Interessen findet unfrei sich der/die andere? Wenn die Römisch-Katholische Kirche ihre Mitschuld am deutschen Judenmord bereut, nicht aber Kreuzzüge, die geschnitzte »Judensau« in gotischen Domen, – Vorbilder der Karikaturen des politischen Antisemitismus -, nicht die rassistische Verfolgung getaufter Juden unter den »Katholischen Königen« Spaniens undsofort, so sind dies nicht nur Peinlichkeiten vom 7. bis ins 20. Jahrhundert. Die Institution könnte Glaubwürdigkeit einbüssen, würden sie bekannt. Da promeniert man lieber auf der anderen Strassenseite des Heils.
Jede Religion ist in sich eingeschlossen und angeschlossen an ihre Wahrheit. Jede hat ihr Fanum, das Profanes ausschliesst, und zweierlei Maßstäbe. Was aussen Mord heisst, mag innen Tötung oder gar Opfer heissen. Von Rabins Tod erschüttert, klärt Bodenheimer: »Überdies wird Ihnen der Fundamentalist erklären, dass SCHALOM, dieses Zauberwort, welches wie gegenwärtig kaum eines sonst die Gemüter in aller Welt, Angehörige aller Glaubensgemeinschaften erhebt, gar nicht Frieden heisst. Mag lang ein ergriffener Präsident des mächtigen Amerika sich vor dem Sarg des Kollegen aus dem kleinen Land verbeugen und ihm nachrufen SCHALOM CHAVER, Friede über dich, mein Freund, und Millionen um die Erde sassen und haben geweint, mag dieser euphonische Ruf als Losung weiter hallen und den Gedanken verbreiten, dass am Ende der Weltfriede doch von der Heimat der Friedensreligionen ausgeht – der Fundamentalist wird nicht müde werden zu erläutern, dass schalom ihm nicht Friede heisst. Sondern: Vollständigkeit, Umfassendheit, auch: Heil .. .immer nur in der Verbindung SCHALOM AL JISRAEL, Geschlossenheit über Israel, gesagt wird …. weil ein in sich geschlossenes, bewahrtes, vollständiges (hebräisch: SCHALEM) Israel – nicht der Staat, sondern der gesegnete Stamm – dies ist, was zu allererst und auch am Ende durch den Juden von Gott erbeten wird … Wer diese gottgegebene Geschlossenheit
verletzt, der ist ein Verräter« (Rabins Tod, 1996).
Dass ein Präsident der USA einflog, um dem ermordeten Rabin die Ehre zu erweisen, hatte viel mit Geopolitik, wenig mit Religion zu tun. Doch wäre auch die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass ein Nachfolger dieses amerikanischen Präsidenten eines Tages am Denkmal des Attentäters einen Kranz niederlegt, wenn ihm denn eine spätere israelische Regierung eines setzt, was Bodenheimer in seinem Essay erörtert.
Als Arzt, der er vor aller Publizistik ist, empfiehlt der Autor, den Attentäter psychoanalytisch zu betreuen. Dennoch bleibt die Verfeinerung mythologischer Altlasten ein Problem für sich, weil sie schon sublimiert sind. HitIers »Schutzstaffeln« , die SS, wollte ein Orden sein, eine Gralsrunde oder zumindest wie die Jesuiten. Junge Akademiker demonstrierten ihre Art »political correctness« in schicken schwarzen Uniformen, geziert mit dem jahrtausendealten Symbol der Vergänglichkeit alles Irdischen, dem Totenkopf in Silber, der Metallfarbe rur das heilige Weiss: Arroganz jeglicher geschlossenen Gesellschaft, die ihre Teilnehmer kooptiert, Chefs und Betriebsleiter der Mordfabrik.
Nein, nein, Gespräche zwischen Machiavelli und Montesquieu in der Unterwelt hatten zuvor nicht stattgehabt. Maurice Joly hat sie rur das 19. Jahrhundert trefflich erfunden; aber das unverblümt realistische Bekenntnis zum Frieden, das Einstein und Freud ablegten, konnte in unserem Jahrhundert zwischen Diktatur und Demokratie die deutsche Weltkatastrophe nicht aufhalten. Hatten die Zelebritäten ihren Voltaire nicht parat? – »Verbrennt eure Bücher, ihr Moralphilosophen! Solange die Laune weniger Männer genügt, dass Tausende unserer Brüder einander gehorsam abschlachten, wird der Teil des Menschengeschlechts, der sich dem Heldentum weiht, das Allerabscheulichste sein, das in der ganzen Natur zu finden ist« (Philosophisches Taschenwörterbuch, 1764). »Gott mit uns« auf Millionen Koppelschlössern, zogen die gehorsamen Deutschen 57 Staaten in ihren Krieg. Am Ende lagen über 55 Millionen Männer, Frauen und Kinder tot. Diese Schuld verjährt nicht. Sie bleibt unerträglich, kein Atla::; kann sic tragen.
Es ist schon so: »Ohne Fundament keine Strenge – ohne Strenge kein Fundament« (Rabins Tod), doch sind diese Fundamente früher gelegt, mitunter verschüttet.
Die Multiplikation der Legenden entscheidet. Der »Tanz um das Goldene Kalb« wird in einem Buch Mose erzählt, nicht in einem des duldsamen Aron. Wie sollte der Prager Zionist Hans Kohn sich gegen die Vernichtungsgebote der Heiligen Schrift durchsetzen, als er 1919 zur Araberfrage mahnte: »Der jüdische Nationalismus war stets ein sittlicher Nationalismus, Pflichten und Rechte: Verantwortung vor der Menschheit. Bleiben wir ernst und klar uns selber treu! Hüten wir uns vor jedem Fetischismus, hüten wir uns vor allem vor dem Fetischismus des nationalen Herrenvolkes!« (Nationalismus, 1922).
Kohn hat nach seiner Rückkehr als Palästinakorrespondent der NZZ einen Bericht über »Die Europäisierung des Orients« vorgelegt, der bei Schocken in Berlin schon unter der Hitlerdiktatur 1934 erschienen ist. Er hat noch erlebt und mit Gelassenheit kommentiert, wie aus der »Europäisierung« die heutige »Amerikanisierung« wurde mit globalem Anspruch wie weiland das Römische Reich, das der Welt die Römische Kirche hinterlassen hat mit annähernd einer Milliarde Gläubigen (UN, 1996).
Der Vergleich von Weltreichen hinkt, weil sie stets auf anderen Signalnetzen gründen. Im Geburtsjahr von Aron Ronald Bodenheimer und des Schreibers dieser Zeilen, 1923, hat am 24. April Aby Warburg als Patient von Ludwig Binswanger in Kreuzlingen vorgetragen. Er behauptete, die elektrische Augenblicksverbindung zerstöre die Distanz und raube damit den Andachtsraum, der zum Denkraum sich erweitere. Nur eine »disziplinierte Humanität« könne die Hemmung des Gewissens wieder einstellen.
Im selben Jahr wurde der Unterhaltungsrundfunk begeistert aufgenommen. Neben dem Weltfluchtraum des Lichtspieltheaters sorgte fortan das Radio rur Distanzverlust. Die Wahrheiten seiner weither gefunkten Sprache waren nicht mehr zu überprüfen. Die neue Generation wuchs in erweiterte Unübersichtlichkeit hinein. In ihren Disproportionen von nicht mehr »hinterfragbaren« Abläufen überzogen, suchte sie ihre Bedürfnisse nach Unabhängigkeit in neuen Abhängigkeiten zu stillen, doch hielt nichts vor.
Mich hat, als ich spät im Leben begann, Bodenheimer zu lesen, gerührt, dass er kaum dreissigjährig (1957) eine Psychotherapie als »Erlebnisgestaltung« vorgestellt hat, nicht unbeeinflusst
vom Basler Psychohygieniker Meng – während den Heidelberger Soziologiestudenten Pross 1945/47 der Psychosomatiker Viktor v. Weizsäcker und seine Mitarbeiter am »Gestaltkreis« beeindruckt haben. Ich verfluchte die Väter, die den Krieg von 1914-1918 als »inneres Erlebnis« (E. Jünger u.a.) gepriesen hatten. Bodenheimer, Vaterlandsverteidiger im »Reduit«, hatte erleben müssen, dass schweizer Vereine sich besorgt »judenfrei« hielten (Teilnehmen und nicht dazugehören, 1985).
Das Fernsehen war bis Mitte der 1950er Jahre hauptsächlich eine technische Novität. Heute überzieht es den Globus mit Laufbildern, deren Schein auch die Redlichkeit überschattet, die Bodenheimer zurecht im Gespräch der monotheistischen Religionen fordert: Toleranz für unaufhebbare Differenzen. Der Schatten verdrängt jedes Wort, das nicht aus hingebungsbereitem Mund den Schlangenkopf des Mikrophons vor der Kamera beschwört. Das Bild ist die Sache selber geworden. Ohne Kamera und Mikrophon züngelt 1998 die Glasfiberschlange nicht. »Edisons Kupferschlange« von 1923 war nur ihre zahnlose Grossmutter.
Alltägliche Indifferenz in der jeweiligen Ordnung führt folgerichtig zu Absonderungstendenzen, auch in fundamentalistische Abgründe. Sie verstärkt. __(Text fehlt??? —
Die Situation ist nicht rational, sondern ökonomische Magie: kurze Schnitte, rasche Kameraschwenks, unvermittelte Übergänge von Bild und Ton strapazieren die Wahrmehmung: 2′ der grosse Aussitzer, 1 ’30« Hungerkinder im Irak, 3′ Siegesmonstranz im Center Court, 2′ Trainerverkauf einer Fussballunternehmung. Der Mensch soll Bilder lesen wie die Natur oder eine Schrift, nicht zu langsam, nicht zu schnell, damit er etwas versteht. Meistens geht es nicht. Das optisch-akustische Fliessband ritualisiert Raum und Zeit zur Unkenntlichkeit. Das Ergebnis gleicht schon eher den heidnisch-antiken Weissagungen, die Warburg als Bildpolitik der Lutherzeit untersucht hat, als den Erfordernissen bürgerlicher Orientierung.
Das technische Instrumentarium perfektioniert sich dank mythologischer Kreditaufnahme beim Publikum schnell. Es fürchtet, sich zu lang-weilen. So nimmt es Zeit vorweg, wie ja Ökonomie und Religion beide auf Kredit beruhen und damit Schulden machen und schuldig werden: Wegnahme von Lebenszeit in der Hoffnung, dass Schuld verjährt.
Mit der »redlichen, unpolemischen Verständigung« wird es unter solchen Bedingungen noch schwieriger werden,
weil die ökonomische Verknappung = Verteuerung von Raum und Zeit die Milliardenzahlen derer erhöhen muss, die »teilnehmen und nicht dazugehören« . Sie rechnen nicht zu den Markenartikeln, die das Welttheater ins Rampenlicht stellt, damit sie vor laufenden Kameras, – je mehr, desto besser – als Schulterklopfmichel und Händchenhalter Verständigung simulieren. Die Leute beginnen zu gähnen, denn sie erfahren nichts Neues. Neugier aber ist eine der besten Gaben der Menschen.
Differenzen, selbst wenn sie sich nur im Outfit kundtun. Prestige ist immer dabei, schrieb zu Jahrhundertbeginn Alfred Adler, noch die kaiserlichen und königlichen Inszenierungen vor Augen: Thomas Mann mit seiner reizenden »Königlichen Hoheit«, die kryptischen Untertanen des Zaren aller Russen vorzüglich in Baden-Baden und gleichartigen Residenzen, schon ganz auf Abschied gestimmt, Joseph Roths »Radetzkymarsch«. Der nobilitierte Hofmannsthal, die französische Ästhetik von heute vorwegnehmend.
Wenn doch Prestigegewinn genug sein könnte! Nein, die Abgedrängten wollen ihre eigene Wahrheit mit Bomben und Maschinenpistolen legitimieren, weil, wie Bodenheimer zu recht sagt, jede Ordnung dahin tendiert, sich als den Wert schlechthin zu bewahren.
Verknappung von Raum und Zeit schafft Konkurrenzen, wo bisher keine gewesen sind. Konkurrenz verschärft Differenzen auf Hauen und Stechen und bei »Unentschieden« auf »alle Ewigkeit«. Kühler formuliert: »Die unendlich erleichterten Kommunikationen« (Marx/Engels, 1848) profanieren mythologische Altlasten und erschweren damit den redlichen Umgang.
Aron Ronald Bodenheimer hat den Rabin-Nachruf seinen Enkeln gewidmet und ihnen in seiner gleichzeitigen ärztlichen Fürsorge für Juden und Kanaaniter, Israeli und Palästinenser aufrechten Gang vorgelebt. Vielleicht werden sie, in Israel wie in der Schweiz, eines Tages noch erkennen, dass die Weisheit des Königs Salomon wiederkehrt. Er hat den Tempel nicht allein, sondern als Schwiegersohn des ägyptischen Pharao und gemeinsam mit dem phönizischen König Hiram von Tyrus gebaut (1. Könige 5.6). Wie sonst hätte er an die Zedern des Libanon kommen können?
In der gegenwärtigen Ordnung sieht nichts danach aus; aber es könnte ja sein, dass aus der Unordnung die libertären Kräfte sich erheben, aus den »Tiefen, man kann auch sagen:
aus den Niedrigkeiten« (Plädoyer fiir die Unordnung, 1994), in die der Tiefenpsychologie Bodenheimer seine Hoffnungen setzt. »Alles hat seine Zeit«. Bekömmlichere, stimulierendere Sprüche als einige des Salomon (Prediger 3) kann ein Publizist im ausgehenden 20. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung nicht lesen: »So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahinbringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird?« (3,22).